Nr. 03 (1997)

Thesen zum interreligiösen Dialog und zur protestantischen Apologetik

Nr. 03 (1997)

von Edmund Weber

ProlegomenaProtestantische Theologie in der Nachfolge Martin Luthers hat allein Gesetz und Evangelium zum Gegenstand.Ihre Aufgabe besteht allein in der Unterscheidung der beiden verba Dei.Als ars practica hat sie für jede Epoche existenzrelevant herauszufinden, was hier und jetzt heißt:

1. Erlösungswille Gottes, d.h. was Christum treibet und im Unterschied dazu

2. Erhaltungswille Gottes, d.h. was das Gesetz treibet.

Das Evangelium ist allein Sache des geistlichen Regiments.

Das Gesetz ist allein Sache des weltlichen Regiments.

Das geistliche Regiment ist nicht mit Kirchenregiment und nicht mit empirischen Kirchengemeinschaften identisch. Es ist als solches nicht greifbar und verfügbar. Es wirkt, wo immer die Sache des Evangeliums zur Sprache kommt oder wo immer man Christum treibet.

Die congregatio fidelium hat in der sichtbaren Kirche als ihr ureigenstes Amt oder proprium officium die Predigt des Evangeliums; sie hat, sofern sie nicht nur deklarativ, sondern tatsächlich die Sache des Evangeliums kontextuell bekannt macht, Teil am geistlichen Regiment. Doch ist dieses Amt als ein sichtbares dem weltlichen Regiment unterworfen: es hat sich als solches gemäß dem Gesetze beurteilen zu lassen, ob nicht eine ihrer kulturellen Präsentationen der Gottes- und Nächstenliebe zuwiderläuft.

Das geistliche Regiment ist als solches im Gegensatz zum weltlichen Regiment ungebunden und unberechenbar. Dieses ist Berechenbarkeit und Bindung.

Das Evangelium teilt die freie, unbedingte Liebe Gottes zu den der Werkgerechtigkeit huldigenden Geschöpfen mit und deckt die Werkgerechtigkeit als Abweis der Freien Liebe Gottes durch die Geschöpfe auf.

Die Formel simul iustus ac peccator schließt jede Vor- und Nachbedingung zur Gewährung der freien, unbedingten Liebe Gottes aus.

Das Gesetz fordert die schöpfungsmäßig als freie angelegte Liebe des Geschöpfes zum Schöpfer und damit zu Schöpfung (Doppelgebot).

Die unausrottbare Werkgerechtigkeit als Verneinung der freien Liebe wird in ihrem Wesen durch die Christus-Offenbarung aufgedeckt.

Diese Offenbarung deckt auf, daß die Werkgerechtigkeit, die zur Natur des Menschen geworden ist, daß die Sünde absolut kein Grund für die Verweigerung der freien Liebe Gottes ist. Im Gegenteil: die freie Liebe Gottes wird durch die sie bestreitende Werkgerechtigkeit in besonderer Weise herausgefordert, ihre Freiheit von der Werkgerechtigkeit unter Beweis zu stellen.

Die Christuswirklichkeit bezeugt die Freiheit der Liebe Gottes von ihrer Verwerfung.

Die ‚Befreiung‘ des Sünders besteht also darin, daß seine unaufhörliche Werkgerechtigkeit vor Gott nichts gilt.

Glaube ist das Ereignis der Konfrontation der Werkgerechtigkeit mit ihrer allgewaltigen Bedeutung in den Augen der Menschen und ihrer Bedeutungslosigkeit im Angesichte des Schöpfers.

Der Erhaltungswille (das Gesetz) Gottes, der sich im weltlichen Regiment manifestiert, fordert von jedem Menschen, Gutes zu tun und verspricht Lohn dafür sowie Böses zu lassen und verspricht Strafe dafür – ob er dieses Tun nun im Sinne der Werkgerechtigkeit ungebrochen oder aber durch Hören des Evangeliums gebrochen deutet.

Das weltliche Regiment ist nicht berechtigt, Werkgerechtigkeit positiv oder negativ zum Kriterium der Erfüllung des Gesetzes zu erklären. Die Werkgerechtigkeit ist nicht genuiner Gegenstand des weltlichen Regiments, sondern des sie auf Grund des Evangeliums für folgenlos erklärenden geistlichen Regiments.

Das Gesetz, für welches das weltliche Regiment zuständig ist, und empirische Kirche als Religionsinstitution ist mehr oder minder selbst Teil des weltlichen Regiments, fordert die Liebe zu Gott und zum Nächsten; und das weltliche Regiment hat dieses Gesetz, das sein Auftrag ist, wenn nötig mit Gewalt, durchzusetzen.

Es fragt aber nicht, ob die Liebe zu Gott frei ist oder nicht. Es verlangt vom Menschen, seine eigene besondere Geschöpflichkeit anzunehmen; d.h. den besonderen Willen des Schöpfers mit ihm zu ehren. Dazu dient oder das ist Religion (Gottesliebe).

Es fragt auch nicht, ob die Liebe zum Nächsten frei ist oder nicht. Es verlangt, die besondere Geschöpflichkeit des Nächsten anzuerkennen, d.h. den besonderen Willen Gottes mit ihm zu ehren. Dazu dient und das ist Politik (Nächstenliebe).

Daraus folgt, daß 1. Religion (und Politik), d.h. die Ver-Ehrung des Erhaltungswillens Gottes, vom weltlichen Regiment vom Menschen eingefordert werden muß, daß aber 2. dessen Religion immer nur, weil er besonderes Geschöpf ist, seine besondere Religion sein kann.

Der Lobpreis des Schöpfers kann nur dann als standardisiert gedacht werden, wenn die Geschöpfe Kopien desselben Musters sind.

Die Schöpfung von Einzelnen läßt also nur zu, die Verehrung des Schöpfers (Religion) dem Einzelnen – gemäß seiner je einzelnen geschöpflichen Eigenart – zuzumuten.

Der Einzelne muß also das einzigartige Schöpfungswerk, das er selber ist, in seiner Besonderheit, in seinem besonderen Schicksal, annehmen.

Anders gesagt: neben dem Lobpreis allgemeiner Schöpfungswerke hat jeder Mensch wegen der eigenen geschöpflichen Individualität den Schöpfer zu verehren; und dies ist des Einzelnen ureigenste Sache.

Religion kann also in ihrem Hauptpunkt, dem Lobe der Schöpfung des einzelnen Menschen, nicht konkret-verallgemeinert werden.

Die Kultur der menschlichen Gottesliebe kann nur als einzigartige Frömmigkeit des Einzelnen existieren.

Das weltliche Regiment muß daher die individuelle Religionsfreiheit gegen Übergriffe anderer verteidigen und zugleich den Einzelnen anhalten, seiner Individualität entsprechenden religiösen Ausdruck zu verleihen (Religionspflicht).

Der interreligiöse Dialog ist also substantiell ein Dialog von einzelnen Menschen, die 1. dem jeweils anderen ihre religiöse Besonderheit erklären, 2. sich in ihrer religiösen Besonderheit dem anderen mitteilen und 3. als Besondere miteinander die jeweilige Religion beraten, um sie zu verbessern, und 4. ggfs. die Entfaltung der eigenen Religion und der des anderen zu beschützen.

Die Verwendung des interreligiösen Dialogs zum Zwecke der Propaganda der eigenen Religion ist wider das Gesetz: einmal hindert es den Einzelnen daran, die Besonderheit seiner Geschöpflichkeit zu erkennen und zum anderen gerade dadurch diese Besonderheit loben zu können; es handelte sich also um ein Vergehen gegen Gott und den Menschen.

Der interreligiöse Dialog IST Gesetzespflicht, denn er verstärkt nicht nur die Gottesliebe der Menschen, sondern auch die Nächstenliebe in sacris.

Der Sinn dieser Pflicht ist die Verantwortung seiner besonderen Geschöpflichkeit 1. vor Gott, der ein Recht auf Lob hat, und

2. vor den Menschen, die ihn in seiner Besonderheit wahrnehmen und respektieren müssen, ja den Schöpfer wegen der Schöpfung der anderen Geschöpfe in ihrer Besonderheit loben sollen. (Besser wäre es, statt von interreligiösem Dialog, von interlegalem Dialog zu sprechen.)

Apologetik heißt also: sich um des Lobes des Schöpfers willen in seiner Eigenart vor sich selbst und vor den anderen erklären (confessio) und mitteilen (communicatio) zu wollen.

Beides ist Voraussetzung von gelingender cooperatio und conviventia.

Der erfüllte Sinn von Apologetik liegt also im unbedingten Lob des Schöpfers: es ist die Antwort der freien Liebe des Menschen auf die freie Liebe Gottes.

Apologetik ist aber nicht Verteidigung des Herrschaftsanspruchs von Religionsgestaltungen über die Religion anderer Einzelne.

Apologetik legt mit den Mitteln der gebrechlichen Vernunft dar, wie man den Schöpfer seiner Schöpfung wegen lobt.

Das Mittel zum interreligiösen Dialog als eine Weise des Gesetzesgehorsams ist die Vernunft, d.h. alle Geisteskräfte, die den Menschen zur Verfügung stehen, um den Forderungen des Gesetzes nachzukommen; sie ist den Menschen jedoch nur als gebrechliche Vernunft, die erkennt und irrt, gegeben und sich deshalb ihrer Vorläufigkeit gerade im interreligiösen Dialog bewußt ist.

Die Irrtumsfähigkeit, die jedermann anhaftet, erfordert dann aber im interreligiösen Dialog ganz besonders, den Rat und die Kritik der anderen zu suchen; und die Erkenntnisfähigkeit andererseits gebietet, dem anderen zu Hilfe zu eilen, ja kritisch zu bedenken.

Die Erkenntnis und Befolgung der Forderungen des Gesetzes ist also der gebrechlichen Vernunft und dem schwankenden Willen des Menschen ausgeliefert; gerade deshalb ist eine interreligiöse wie überhaupt unbegrenzte interhumane cooperatio in lege zur Erfüllung des Gesetzes notwendig.

Vernunft ist also interreligiöser Kommunikationsgrund; einmal wegen ihrer Begrenztheit und zum anderen wegen ihrer Hilfsfähigkeit.

Die Ethik der interreligiösen Beziehungen schließt Willkür und Beliebigkeit zur Aufnahme und Durchführung des interreligiösen Dialogs aus, so wie die Ethik der interpolitischen Beziehungen keine Rechte, sondern nur Pflichten kennt.

Das Evangelium bringt dagegen keine Verpflichtung hervor. Es ist nichts als Geschenk. Es wird nicht erfüllt in einem wie immer gearteten menschlichen werk.

Im Evangelium geht es nicht um die geforderte Liebe des Menschen zum Schöpfer, sondern um das uneingeschränkte Liebeshandeln des Schöpfers zum Geschöpf. Es teilt diese Liebe mit. Zu fordern ist nicht seines Amtes, auch nicht irgendeine Religion oder Politik.

Deshalb kann das Evangelium auch bedenkenlos verbreitet werden, liegt ihm doch keine vernünftig zu begründende Verpflichtung inne, übt es keinen Zwang aus, wahrt es doch die Freiheit zur Annahme und Ablehnung.

Annahme und Ablehnung des Evangeliums bewirken nichts zur Sache des Evangeliums. Diese genügt sich selbst. Ihr Interesse besteht allein darin, in die Welt hinausposaunt zu werden.

Das Wort wirkt – wie die altprotestantischen Väter lehrten – durch sich selbst; zusätzliche Überzeugungsarbeit kann prinzipiell unterbleiben. Die Freiheit des Evangeliums erfordert, daß stets die Freiheit gegenüber dem Evangelium gewahrt werden muß, soll es nicht zum Gesetz pervertiert werden, soll nicht Christus wieder Moses werden.

Mission und Evangelium ist identisch. Mission ist Wesensmerkmal des Evangeliums. Evangelium verwirklicht sich nur in Mission. Aber sie fordert keine neue Religion oder Politik; sie fordert überhaupt nichts, sie erzählt, drängt nicht an die Enden der Erde, sondern an die Ohren der Menschen.

Da Mission nichts fordert, sondern nur schenkt, ist Evangelium kostenlos zu verbreiten: ohne Vor- und Nachbedingung, ohne Aufgabe der eigenen Religion und Politik.

Wenn es aber nicht an bestimmte Religion und Politik gebunden ist, dann kann es auch woanders sein; verborgen nur der jeweils anderen Religions- und Politikgestalt.

Anonyme Christen haben ihre eigenen Namen. Namenlosigkeit zu unterstellen, heißt verkennen, daß der eigene Name ein Name des Evangeliums sein kann. Der Name Jesus Christus ist keine Personenkennzeichnung, sondern eine Kraft, die das Evangelium durchbrechen läßt. Wer die Kennzeichnung von Personen verbalisiert, hat damit noch keineswegs den Namen als heilige Kraft vergegenwärtigt. Der Name des Evangeliums präsentierte sich den ersten Christen als Jesus Christus.

Die Sache des Evangeliums, d.h. Mission, hängt an keiner besonderen Symbolik; sie spricht sich mit allen Zungen aus; in jeder Kultur hat sie ihre eigene Gestalt.

(Universale protestantische Theologie spürt das Evangelium überall auf, um alle Gestaltungen desselben zu erforschen und der Welt zugänglich zu machen.)

Mission, d.h. die Bekanntgabe der unabänderlichen närrischen Liebe Gottes zu seinen werkgerechten Geschöpfen vor aller Welt, geschieht schon immer überall.

Es ist an der Zeit, neben dem interreligiösen Dialog des Gesetzes den interkulturellen Dialog des Evangeliums, der Mission, in Gang zu setzen.

Die ständige Vermischung von forderndem Gesetz und kostenlosem Evangelium überall in der Welt aufzulösen und die evangelischen Elemente im Christentum und Nichtchristentum auszugraben und in ihrer eigenen Farbe leuchten zu lassen, sollte zu einer den interkulturellen Dialog des Evangeliums erschließenden und befördernden universalen Missionstheologie führen.

Die Verbreitung von Gesetzesauslegungen dagegen unterliegt der gebrechlichen kritischen Vernunft, an der alle Menschen teilhaben und bei der Christen keinen Vorsprung besitzen; christliche Religionskultur und westliche Politik hervorzubringen und zu verbreiten ist keine der Vernunftkritik anderer Kulturen entzogene Angelegenheit. Sie bedarf der vernünftigen Apologetik der Weltbürger voreinander.

Link zum Artikel: relkultur03

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