Nr. 05a (1997)

Swami Vivekananda und der Buddhismus

A Contribution to a Modern Concept of Religion and Inter-Religious Relations

Nr. 05a (1997)

von Edmund Weber

Moderne Hindus verwenden die Bezeichnung Hinduismus in einem positiven Sinn. Sie gilt nicht mehr als lästige Fremd-, sondern als identitätsstiftende Selbstbezeichnung. Der historisch wirksamste Ideologe dieser neuen, man muß fast sagen genuinen Hinduismusbewegung, ist der in Kalkutta gebürtige Narendra Nath Datta (1863-1902). Dieser hochbegabte Sohn einer angesehenen Juristenfamilie wurde Schüler von Ramakrishna, dem glühenden Verehrer

und Priester der Göttin Kali. Als Sannyasi erhielt er den Namen Swami Vivekananda und gründete den hochberühmten Ramakrishna-Orden.[1]

Dieser bengalische Mönch prägte die moderne Formel: „We are Hindus.“[2] (III 368) und verstand bewußtermaßen dieses Wort positiv: „I do not use the Hindu in any bad sense at all, nor do I agree with those that think there is any bad meaning in it.“(III 368) Diese erstmalige Hochschätzung des Wortes ‚Hindu‘ lag für ihn darin begründet, „that this is the highest word that any language can invent.“(III 368) Swami Vivekananda ist denn auch stolz auf sein Hindutum, das er von seinen Vorfahren ererbt hat: „I am one of the proudest men ever born, but let me tell frankly, it is not for myself, but on account of my ancestry.“(III 368) Deshalb seine Frage: „Why should you feel ashamed to take the name of Hindu, which is your greatest and most glorious possession?“(III 461) An anderer Stelle zieht er daraus den berühmten Schluß: „I am proud to call myself a Hindu.“(III 381)

Das Erbe seiner Vorfahren, der großartigste und ruhmreichste Besitz, drückt sich im ‚Hindu character‘ aus, der zwar politische und soziale Unabhängigkeit gutheißt, jedoch spirituelle Unabhängigkeit, „Mukti,“ als „the real thing“(V 458) versteht. Und darin, in diesem Hindu Charakter, sind alle Hindus gleich: „Whether you take the Vaidika, the Jaina, or the Bauddha, the Advaita, the Vishishadvaita, or the Dvaita – there, they are all of one mind.“(V 458)

Dieser Hindu Charakter oder diese Hindu Religion, an der alle indogenen Margas teilhaben, ist Seele Indiens: „Now you understand clearly where the soul of this ogress (d.h. Indien; der Verf.) is – it is in religion.“(V 459) Oder: „We have seen that our vigour, our strength, nay, our national life is in our religion.“ (III 289) Und diese Seele ist der Grund dafür, daß niemand die Hindu Nation vernichten konnte: „Because no one was able to destroy that (sc. die Hindu religion; der Verf.), therefore the Hindu nation is still living, having survived so many troubles and tribulations.“(V 459) Dieser Hindu Charakter hat sich aber erst in einer Jahrhunderte langen Evolution herausgebildet (V 460)[3] und ist offensichtlich heute zu einer kraftvollen geschichtsbildenden Gestalt geworden; denn davon ist Swami Vivekananda zutiefst überzeugt: „In the meanwhile in India there is a tremendous revival of religion.“(III 172)

Das gesellschaftliche Ideal dieses Hinduismus ist das Brahmanentum; doch das bedeutet nicht das Geburtsbrahmanentum, sondern ganz im Sinne anderer hinduistischer Reformbewegungen und gerade auch des Buddha: „I mean the ideal Brahmin-ness in which worldliness is altogether absent and true wisdom is abundantly present. That is the ideal of the Hindu race.“(III 197)

Und daraus leitet Swami Vivekananda ein sozialspirituelles Reformprogramm ab, durch das alle Menschen – wie im Satya Yuga – wieder Brahmanen werden können. In diesem Goldenen Zeitalter, zitiert Swami Vivekananda das Mahabharata, waren alle Menschen Brahmanen, und erst als sie degenerierten, teilten sie sich in vier Kasten auf. Und wenn der Weltalterzyklus „turns round“, werden alle wieder zu ihrem brahmanischen Ursprung zurückkehren. Diese Umdrehung ereignet sich im Jetzt, es ist jetzt die Endzeit der Kastengesellschaft und die Neuzeit der kastenlosen Gesellschaft angebrochen: „This cycle is turning round now, and I draw your attention to this fact.“(III 198)

Dieser eschatologische Aspekt in Vivekanandas Geschichtsvision erklärt überhaupt erst sein erstaunliches realgeschichtliches Engagement, seinen missionarischen Eifer und seinen unglaublichen Hindu Optimismus – in einer Zeit, wo der Kolonialismus in voller Blüte stand und Indiens Kastensystem verstärkte. Die Gesellschaftsreform Swami Vivekanandas gründet aber nicht in europäisch-bürgerlichen Ideen, sondern entspringt altindischen Sozialutopien, die bereits formuliert wurden, als es den Westen noch gar nicht gab. Die edukative Brahmanisierung der Gesellschaft gilt ihm als die beste Überwindung der spalterischen Kastengesellschaft. Das Endziel dieser sozialen Revolution ist die Brahmanisierung, d.h. die Egalisierung der gesamten Menschheit auf dem höchsten kulturellen Niveau, traditionell gesprochen, daß die Menschheit eine einzige brahmanische Kaste wird: „Such is our ideal of caste, as meant for raising all humanity slowly and gently towards the realisation of that great ideal of the spiritual man, who is non-resisting, calm, steady, worshipful, pure, and meditative.“(III 198)

Dieser Neobrahmanismus hat also nichts mehr mit dem zur degenerativen Epoche des Kali-Yuga gehörenden Geburtsbrahmanentum der Orthodoxie zu tun; er ist vielmehr der Versuch, die den Brahmanen in der Tradition zugeschriebenen spirituell-moralischen Eigenschaften zu verallgemeinern, d.h. allen Kasten zugänglich zu machen. Insofern ist der Neobrahmanismus ein integraler Bestandteil des bürgerlichen Hindutums, der die Aneignung des spirituell-moralischen Erbes der indischen Hochkultur nicht mehr an Geburt, Stand und Kaste binden will.

Mit seinem Hindubegriff verbindet Vivekananda weiterhin die Idee der Hindu Vereinigung und wehrt damit den Rückzug in die Einzelsekte, den viele seiner reformerischen Zeitgenossen angetreten sind, entschieden ab: „The band of reformers in our country want, …, to build up a separate sect of their own. They have, however, done good work; may the blessings of God be showered on their heads!! But why should you, Hindus, want to separate yourselves from the great common fold?“(III 460-461) ‚Hindu‘ steht demnach gerade für gemeinschaftliche öffentliche Wirksamkeit. Die Abgrenzung und Verselbständigung der einzelnen Margas und Dharmas ist das glatte Gegenteil vom wahren Hindutum.

Dieses Hindutum hat gewisse gemeinsame Grundlagen, „common to all our sects, however varying their conclusions may be, however different their claims may be.“ (III 287) und es geht mit dem Hindutum gerade darum, „to bring out these life-giving common principles of our religion.“(III 287)

Vivekananda will also mit seiner Hindu Konzeption die geschichtsmächtige Gemeinsamkeit der indogenen Einzelreligionen, das, was vorher als Dharma bezeichnet wurde, zur Entfaltung bringen. Denn diese Entfaltung setzt offenbar jene Kräfte frei, die die neue kastenfreie Brahmanengesellschaft im Sinne der Geschichtstheologie Swami Vivekanandas gestalten können. Von daher ist nur natürlich, daß er sich auch mit dem Buddhismus befaßt und dessen Beziehung zum Hindutum, zu dem jener nach seiner Auffasung gehört, zu klären versucht.

In verschiedenen Nebenbemerkungen äußert sich Swami Vivekananda durchaus kritisch über den Buddhismus. Er tadelt die Buddhisten, die Bauddhas, weil sie erklären: „Nothing is more desirable in life than moksha; whoever you are, come one and all to take it.“(V 447) Er hält dies für unverantwortlich, weil der „Svadharma“, d.h. die je eigenen weltlichen Pflichten, nicht respektiert werden. Vivekananda fragt den Bauddha: „Is that ever possible?“(V 448) – d.h. sich ohne Rücksicht auf die Weltverantwortung auf den Moksha-Pfad zu begeben? Und läßt die Hindu Schriften antworten: „You are a householder, you must concern yourself much with things of that sort; you do your Svadharma (natural duty).“(V 447-448) Mit den Hindu Shastras argumentiert er grundsätzlich gegen die weltabgewandte Moksha-Agitation: „No doubt, Moksha is far superior to Dharma; but Dharma should be finished first of all.“(V 448) Und dazu gehört, wenn nötig, Menschen, wenn sie Verbrechen begehen zu verletzen, ja zu töten, auch wenn sie Brahmanen sind (V 448), um die Gerechtigkeit in der Welt, den Dharma, zu gewährleisten.

Der modern-bürgerlich denkende Mönch mutmaßte, daß die buddhistischen Bikkus Dharma von Moksha trennen und so die Menschen von ihren weltlichen Aufgaben abbringen wollten.

Den Untergang des indischen Buddhismus führt Vivekananda denn auf dessen religiöse Praxis zurück. Zwar behauptet er – ganz im Widerspruch zur Hindu Orthodoxie – die Übereinstimmung des Buddhismus mit den Zielen der vedischen Religion : „The aims of the Buddhistic and the Vedic religions are the same,“ aber: „the means adopted by the Buddhistic are not right.“(V 455) Diese Fehlerhaftigkeit der Buddhisten lastet Swami Vivekananda aber nicht dem Buddha selbst, sondern nur seinen Nachfolgern an. Buddha und dessen wahrer Buddhismus bleiben ein integraler Bestandteil des Hindutums, ja mehr als das: In seiner berühmten Rede vor dem Parlament der Religionen in Chicago am 26. September 1893 legte Vivekananda als Hindu gleichsam bekenntnishaft sein Verhältnis zum Buddha und Buddhismus dar: „I am not a Buddhist, …, and yet I am. If China, or Japan, or Ceylon follow the teachings of the Great Master, India worships him as God-incarnate on earth,“(I 21) gilt doch Buddha den Hindus in Indien meist als Avatar Vishnus.

Und wenn er, Vivekananda, angekündigt habe, den Buddhismus zu kritisieren, dann sei es ferne von ihm, „to criticise him whom I worship as God incarnate on earth.“(I 21) Swami Vivekananda drückt hier nichts anderes aus, als was die Masse der Inder und ihrer Kulturverwandten denken: Buddha ist eine zu verehrende machtvolle Inkarnation Gottes.

Der bengalische Swami legt damit an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ein klares Bekenntnis zum uralten Hindu Buddhismus ab. Und diese hinduistische Buddhafrömmigkeit erlaubt nicht zu behaupten, der Buddhismus sei im hinduistischen Indien jemals ausgestorben; er lebte und lebt in seiner avatarischen Gestalt unvermindert weiter. Ausgestorben ist lediglich der monastische Buddhismus, der sich auf königliche Protektion, feudale Klöster und Ordensgeistlichkeit stützte.

Sw. Vivekananda erklärt dann seinen amerikanischen Zuhörern seine Sicht der Beziehung von Hindutum und Buddhismus mit dem Verhältnis von den beiden Religionen, die ihnen wiederum sehr vertraut sind: „The relation between Hinduism (by Hinduism, I mean the religion of the Vedas) and what is called Buddhism, at the present day is nearly the same as between Judaism and Christianity.“(I 21) Und dann vergleicht er die beiden Religionsstifter des Christentums und des Buddhismus im Blick auf ihre Volks- und Religionszugehörigkeit: Wie Jesus Christ ein Jude war, so war Shakya Muni ein Hindu.(I 21) Das heißt, die beiden großen religiösen Persönlichkeiten selbst haben ihre Herkunftsreligionen nicht verlassen. Interessanterweise bezeichnen beide Herkunftsbezeichnungen Ethno-Religonen: Judentum und Hindu Nation. Aber während die Juden ihren ethno-religiösen Genossen Jesus Christus abgelehnt hätten, hätten im Gegensatz dazu die Hindus den Shakya Muni als Gott anerkannt – und würden ihn bis heute als solchen verehren.(I 21) Insofern gibt es zwischen den Hindus und Buddha keinen Widerspruch, keine Differenz.

Wohl aber gibt es einen echten Widerspruch zwischen den Lehren Buddhas und modernen Buddhisten. Dieser bestehe darin, daß Shakya Muni – offenbar im Gegensatz zu seinen Nachfolgern, die sich vom Hindutum abgegrenzt zu haben scheinen, nichts Neues, gegen die Hindu Religion gerichtetes, gepredigt habe. Vielmehr: „He (Shakya Muni) also, like Jesus, came to fulfill and not to destroy.“(I 21) Diese überraschende Verhältnisbestimmung von Hinduismus und Buddha, der das christliche Interpretament des Verhältnisses von alttestamentlicher Religion und Jesus Christus zu Grunde liegt, formuliert Vivekananda kurz drauf mit unerhörter Eindeutigkeit: „Again, I repeat, Shakya Muni came not to destroy, but he was the fulfilment, the logical conclusion, the logical development of the religion of the Hindus.“(I 21)

Diese hinduistische Theorie der Erfüllung der Hindureligion durch die Lehren Buddhas stellt das wohl konsequenteste Nichtdifferenz- und Integrationsmodell dar, das es im Hinduismus gibt.

Doch handelt es sich hierbei nicht um ein interreligiöses Kompromißmodell, das etwa die modernen Buddhisten für den Hinduismus gewinnen soll. Der Buddha, von dem Swami Vivekananda spricht, ist der Buddha moderner Hindus, deren späterer Hauptvertreter Mahatma Gandhi wurde und nicht der neo-buddhistische Konvertit Ambedkar. Denn der Swami läßt keinen Zweifel daran, daß die modernen Buddhisten den wahren Buddha und seine Lehren nicht begriffen haben: “ … in the case of Buddha, it was his followers who did not realise the import of his teachings.“(I 21) Und an anderer Stelle sagt er: „As the Jew did not understand the fulfilment of the Old Testament, so the Buddhists did not understand the fulfilment of the truth of the Hindu religion.“(I 21)

Der Untergang des alten Buddhismus in Indien führt Vivekananda schließlich darauf zurück, daß er die Veden verachtete und Indien den Gottesglauben raubte.(I 22) Dieser Untergang beraubte aber zugleich das Brahmanentum jener wunderbaren Sympathie und Nächstenliebe, jenes wunderbaren Sauerteigs, den der Buddhismus den Massen gebracht und der die indische Gesellschaft so berühmt gemacht habe, daß altgriechische Schriftsteller berichteten, daß man von keinem Hindu wisse, daß er lüge und von keiner Hindu Frau, daß sie unzüchtig sei.(I 23)

Hier wird deutlich, daß Swami Vivekananda den Lehren Buddhas einen fundamentalen Stellenwert für die Hindu Gesellschaft zumißt: sie sind ein notwendiger Teil des Hindudharmas, sie sind der sozialethische Motor, den die philosophische Kraft der Brahmanen unbedingt benötigt: „Hinduism cannot live without Buddhism, nor Buddhism without Hinduism. Then realise what the separation has shown to us, that the Buddhists cannot stand without the brain and philosophy of the Brahmins, nor the Brahmins without the hearts of the Buddhist.“(I 23) Die konfessionelle Spaltung hatte für Indien katastrophale Folgen: „This separation between the Buddhists and the Brahmins is the cause of the downfall of India.“(I 23)

Die schwerwiegenden Fehler der Buddhisten, die die Lehren und das Werk des Buddha durch ihre antivedische Einstellung und Gottesverachtung offenbar verschütteten und damit der indischen Gesellschaft als Lebenselixier entzogen, seien der Grund dafür, „why India is populated by three hundred millions of beggers“(I 23), daß Indien ökonomisch ruiniert sei und keine Erwerbsmöglichkeiten bestünden. Aber nicht nur diese wirtschaftliche Katastrophe gründe in der Selbstzerstörung des separatistischen Buddhismus, sondern auch daß „India has been the slave of conquerors for the last thousand years.“(I 23)

Wie immer man diese historischen Hypothesen bewerten mag, so zeigen sie doch überaus deutlich, daß Swami Vivekananda, der geistige Vater des modernen Hinduismus, die buddhistische Lehre, den Baudhadharma, als Erfüllung des Hinduismus ansieht, dessen Rahmen und Grund aber die sog. vedischen Hindureligionen darstellen. Buddhismus und Brahmanismus sind somit notwendige Komplemente der Hindu Nation oder Hindu Kultur. Und entsprechend beschließt Swami Vivekananda seine Ansprache mit dem pathetischen Aufruf: „Let us then join the wonderful intellect of the Brahmins with the heart, the noble soul, the wonderful humanising power of the Great Master“(I 23), d.h. Buddhas.

Swami Vivekanandas Komplementaritätsthese trägt somit trotz seiner Kritik an konkretem buddhistischem Fehlverhalten in der Geschichte für die Behauptung der prinzipiellen Differenz von Buddhismus und Hinduismus nichts aus. Sie gewinnt aber zunehmend an Boden und wird für die Beziehungen von Buddhisten und Hindus in der globalen religiösen Auseinandersetzung im kommenden Jahrhundert strategische Bedeutung erlangen

[1] Zur Biographie Swami Vivekanandas s. Swami Tejasananda: A Short Life of Swami Vivekananda, Belur Math (Dist. Howrah) 1993

[2] The Complete Works of Swami Vivekananda, Calcutta: Advaita Ashram 1984 seqq. Vol.

[3] Nach Swami Vivekananda ist die Evolutionstheorie der Grundbegriff indischen Denkens und hat erst zu seiner Zeit „made its way into physical science of Europe“(V 519).

Link zum Artikel: relkultur05a

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