Nr. 256 (2020)

Ehrenmord
Ein Phänomen zwischen Obskurantismus, Angst und wirtschaftlichem Kalkül

Nr. 256 (2020)

Ein Essay von Natalia Diefenbach

In meiner langjährigen Lehrtätigkeit an der Universität wurde ich wiederholt mit der Frage konfrontiert, ob das als Ehrenmord bekannte soziale Phänomen nun universeller archaischer Brauch patriarchalischer Sippengesellschaft sei  oder seine Wurzeln in der Religionskultur der Muslime habe. Fragen wir zunächst: Ist Ehrenmord seinem Wesen nach: ein vorsätzlicher Mord? Ein Totschlag? Ein sadistisches Verbrechen? Eine verzweifelte

affektive Reaktion auf den vermeintlichen Rufmord? Ein Mittel gegen Angst und Verzweiflung? Eine Rache, die der Abschreckung der anderen dienen soll? Abwendung einer kollektiven Bedrohung? Häusliche Gewalt unter dem Vorwand der Ehrverletzung? Lösung eines ökonomischen bzw. sozialen Problems? Gilt auch der Verstossung des Opfers aus der familiären Gemeinschaft als sozialer Ehrenmord? Wie stehen die Auftraggeber, der unmittelbarer Täter und das Opfer zueinander? Kann man von der Universalität dieses Phänomens sprechen oder ist jeder Fall eine Sache für sich? Inwieweit ist Ehrenmord mit der Lehre des Islam bzw. mit der gelebten Religionskultur der Muslime zu vereinbaren? Fragen über Fragen.

Die Publikationen zum Thema „Ehrenmord“ sind geradezu uferlos, die Quellensammlungen sind überwältigend. Allein ihre Aufzählung würde den Rahmen dieses Essay sprengen. Es werden Organisationen gegründet, die sich mit dem Thema beschäftigen. Es werden umfangreiche Archive erstellt. Das gut dokumentierte Themenfeld beschäftigt Politiker, Justiz und die akademische Welt. Das Thema schlägt sich nieder in der Massenkultur. Ehrenmord ist ein komplexes Phänomen, in dem sich diverse psychologische, historische, religiöse, ethnologische, juristische, wirtschaftliche und soziologische Vorstellungen und Interessen explosiv aufeinandertreffen.

Um die Ehrenmordmotive zu verstehen, sollten die Menge der Faktoren und Beweggründe differenziert und jedes der Motive sowohl einzeln als auch im Zusammenwirken betrachten.

Neben anderen Motiven sind hierbei generell zwei Aspekte besonders hervorzuheben: verdrängte sozial-tabuisierte Sexualität einerseits und wirtschaftlicher Kalkül andererseits. Die islamischen Inhalte begründen zwar Ehrenmord nicht direkt, untermauern aber an einigen Punkten konservative Vorstellungen innerhalb der Stammesmentalität, die zu einem Ehrenmord als logisch erscheinende Konsequenz führen können. Voraussetzung dafür ist eine extrem konservative Leseart der islamischen Quellen. Einem Ehrenmord geht immer ein kollektiver Rufmord voraus.

Das Phänomen des Ehrenmordes ist geographisch gesehen weit verbreitet. Die Meldungen über die mit Verletzung der Ehre motivierten Ermordung von Frauen, selten auch von den ermordeten Männern, kommen in kurdischen Gebieten, im Kaukasus, in Jordanien und Syrien, in Pakistan, Indien, Bangladesh, im Iran, Irak, in Palästina, im Libanon, Maghreb, in Jemen, Äthiopien, im Kosovo, sowie in einigen anderen Ländern, wie Mexiko, Ecuador, Brasilien, Ostafrika, Malaysia, Papua-Neuguinea, Kambodscha, sowie in westeuropäischen Ländern mit erweiterten Subkulturen von Migranten vor.

In diesem Zusammenhang kann von einem Export des Ehrenmords durch einige Migrantenfamilien aus entsprechenden Kulturkreisen nach Europa sprechen.

Die offiziellen Statistiken in den betroffenen Ländern kann man nicht als eindeutig bezeichnen, weil sie nur die bekannt gewordenen offensichtlichen Fälle berücksichtigen. Die Schwierigkeit bei der statistischen Erfassung besteht darin, dass eine hohe Dunkelziffer aufgrund nicht angezeigter Todesfälle oder der als Selbstmord und Unfall getarnten Ehrenmorde besteht.

In Deutschland haben Ehrenmorde seit dem spektakulären Fall der Ermordung der türkischen Kurdin Hatun Sürücü in Berlin im Jahr 2005 öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Angesichts einer Gesamtzahl von ca. 700 Menschen, die pro Jahr in Deutschland bei einem Tötungsdelikt sterben, darunter viele in Familien und Partnerschaften, sind Ehrenmorde hierzulande quantitativ seltene Ereignisse.

Es gibt keine Hinweise auf eine starke Beteiligung von Migranten der zweiten oder dritten Generation an Ehrenmorden. Ebenfalls gibt es keine Hinweise auf eine Zunahme der Ehrenmorde in den letzten Jahren. Diese Ergebnisse lassen hoffen, dass sich Ehrenmorde nicht dauerhaft als Gewaltphänomen in Deutschland etablieren werden. Aus dieser Perspektive kann man den Ehrenmord im europäischen Kontext als ein importiertes Überbleibsel ansehen, welches spätestens in der vierten Einwanderergeneration verschwinden wird.

Die Definition des Ehrenmords ist vielfältig und soll diverse Aspekte berücksichtigen. Demnach ist Ehrenmord ein aus dem sexuell-normativem Kontext einer patriarchalischen Gemeinschaft motiviertes Gewaltphänomen mit angestrebtem Zeichen setzender (demonstrativer) Wirkung. Der Ehrenmord wird von den betreffenden Gruppen begangen, um den Beweis zu erbringen, dass der Machtstatus der männlichen Mitglieder der betroffenen Familie nicht in Zweifel gezogen werden kann. In seltenen Fällen findet Ehrenmord spontan statt, meistens wird er sorgfältig in dem erweiterten Familienkreis geplant und an einer weiblichen Person von einem nahestehenden männlichen Blutsverwandten mit vollstreckt.

Das weibliche Opfer befindet sich in der Regel in einem gebärfähigen Alter; ihre vermeintliche Schuld wird an ihrer ebenso vermeintlich entfesselten Sexualität ggf. Widerspenstigkeit geknüpft. Das Ziel der Tötung ist die Wiederherstellung der kollektiven Familienehre in Augen der sozial relevanten Öffentlichkeit. Partnertötungen, die Merkmale von Ehrenmorden aufweisen, unterscheiden sich von „normalen“ Partnertötungen vor allem durch die Unterstützung und das Verständnis im familiären Umkreis des Täters und durch die Legitimierung der Tat mit einem ungeschriebenen Ehrenkodex, der von den Tätern als wichtiger als das allgemeine Tötungsverbot angesehen wird.

Ausgelöst wird der Ehrenmord durch die subjektive Wahrnehmung der patriarchalisch determinierten Gemeinschaft von der vermeintlichen oder realen Grenzüberschreitung der Frau, durch die der Mann bzw. die Grossfamilie sich in ihrer spezifisch definierten Ehre verletzt fühlen. Seltener wird auch ein männliches Familienmitglied zum Opfer eines Ehrenmords. Dies ist dann z.B. der Fall, wenn homosexuelle Neigungen eines Familienmitglieds publik geworden sind, wenn der Mann die Frau eines anderen Mannes ausgespannt hat oder versucht, wenn der Mann einen Geldbetrug an vielen Familien der Gemeinschaft begangen hat usw.

Die Handlung zur Wiederherstellung der vermeintlich aus den Fugen geratenen Sozialordnung wird als logische Konsequenz aus solcher Wahrnehmung gezogen. Verschiedene Umstände können zum Verbrechen dieser Art führen. Eine Frau kann durch ihr Verhalten oder ihr von der tradierten Norm abweichendes Rollenverständnis Opfer eines Ehrenmordes werden. Sie weicht beispielsweise von der Norm ab, wenn sie einer arrangierten Ehe nicht zustimmt, die die Familie für sie beschlossen hat. Die Gründe für solch eine Ehe sind meistens ökonomischer Natur. Der Familienbesitz soll in der Familie bleiben, die familiären Bünde sollen gefestigt werden und die Frau soll als Arbeitskraft in der Grossfamilie bleiben. In diesen Fällen fungiert die Frau gleichsam als Zahlungsmittel, als materieller Wert innerhalb der Grossfamilie. Weigert sie sich, diese Rolle anzunehmen, gefährdet sie das angestrebte Wohlergehen der Grossfamilie und stellt sich damit gegen die familiären Interessen. Eine arrangierte Ehe kann nicht nur die Frau, sondern einen jungen Mann betreffen. Sollte dieser der arrangierten Ehe nicht zustimmen, droht ihm der Verstoss aus der Gemeinschaft, was angesichts seiner völligen Abhängigkeit von seiner Grossfamilie einem sozialen Ehrenmord gleichkommt. Er kann sich nicht mehr auf die Unterstützung seiner Grossfamilie verlassen, wird verachtet und hat somit keine Chance auf die gesellschaftliche Partizipation mehr.

Gibt sich die verheiratete Frau nicht mit ihrer traditionalistisch verstandenen Rolle als Hausfrau und Mutter zufrieden, verlässt das Haus und spricht mit nichtverwandten Männern, wird sie schnell als Hure und Schlampe abgestempelt, bringt sie doch Schande über ihre Familie. Die Folgen können für die Familie fatal sein, weil sie in ihrem relevanten gesellschaftlichen Kontext nicht mehr als respekt- und vertrauenswürdig wahrgenommen. Dies wiederum führt zu erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen. Im archaischen sozialen Umfeld wird von der Frau erwartet, dass sie sich den Entscheidungen der Familie – besonders ihres Vaters – fügt, nicht aber, dass sie eigene Lebensvorstellungen verwirklicht.

Eine andere Ursache für Ehrenmord kann auch der Wunsch der Frau nach einem selbstbestimmten Leben mit dem Ziel sein, das Haus für eine Ausbildung zu verlassen. Diese Fälle sind im europäischen Kontext verbreitet und hauptsächlich in den eingewanderten Familien, die ein niedriges Bildungsniveau aufweisen, anzutreffen. Die selbständigen Entscheidungen der Frau verunsichern den archaisch-patriarchalisch konditionierten Mann, weil solche Entscheidungen zu treffen, steht der Frau nicht zu. Solche weibliche Selbstbestimmung stellt Autorität, Männlichkeit und Dominanz des Mannes in Frage, was Verlust seiner Ehre nach sich zieht. Aus der Sicht der betreffenden Gesellschaft wird die bestehende soziale Ordnung durch solch ein Verhalten in ihren Grundlagen bedroht.

Die Tatsache, mit einem fremden Mann zusammen gesehen worden zu sein oder lediglich verdächtigt zu werden, mit einem fremden Mann gesprochen oder zusammen gewesen zu sein, assoziiert den Verdacht der sexuellen Unreinheit. Die Jungfräulichkeit wird regelrecht kultiviert und macht die Braut zu einem wertvollen Tauschobjekt. Auf der kollektivsymbolischen Ebene ist der Körper der Frau das Gefäß der Familienehre. Wird es beschädigt, zerbricht die Ehre der ganzen Familie mit. Die Ehre einer Frau kann nur verloren und niemals wiederhergestellt werden. Drängt der Verdacht oder Gewissheit von dem sexuell nicht-gesellschaftskonformem Verhalten der Frau in das öffentliche Bewusstsein, ist es unbedingt notwendig, das Verhalten der Frau zu korrigieren bzw. sie als Problemauslöserin aus der Welt zu schaffen. Ist die betroffene Frau nicht bereit, auf Ermahnungen und Bestrafungen (wie Isolation oder Schläge) wie gefordert zu reagieren und sich dem gesellschaftlichen Druck zu beugen, sieht sich der Mann bzw. die Männer gezwungen, selbst für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. In einigen Fällen kann ein blosses Gerücht als Auslöser für einen Ehrenmord ausreichend sein. Die Unterstellung einer sexuellen Beziehung oder eines Flirts reicht in einer Gesellschaft, in der der Ehrenmord als legitim angesehen wird, oft als eine provokative Verletzung der Familienehre aus. Das Blut muss fließen, um die Ehre wiederherzustellen bzw. von der Verschmutzung zu reinigen. In diesem Punkt haben Ehre und faktische Sachlage nichts mehr miteinander zu tun. Die Ahndung der Frau durch die familiäre Selbstjustiz hat eine symbolisch-reinigende Dimension. Die Frau ist die Schuldige – sogar, wenn sie vergewaltigt wurde – der Täter stellt nur Recht und Ordnung wieder her.

In einem durch archaische Vorstellungen dominierten Umfeld hat eine Frau nur ein Recht auf Leben, wenn sie sich bedienungslos an die gesellschaftlichen Normen und Traditionen hält. Der Täter eines Ehrenmordes lebt in einer Gesellschaft, die ihn nicht als kriminellen Mörder betrachtet. Er findet volles Verständnis und gilt als einer, der gezwungen war, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Deshalb werden oft auch anders geortete Gewaltakte gegen Frauen als Ehrenmorde getarnt. Es gibt zwar jeweils verschiedene Ursachen, die zu einem einzelnen Ehrenmord führen, aber dennoch haben einige gemeinsame Merkmale: Der Familienrat (die männlichen Ältesten) trifft die Entscheidung, das Mädchen oder die Frau zu töten. Zu Ausführung der Tat wird in der Regel ein nahestehender Verwandter bestimmt, wobei die Minderjährigen, bei denen ein geringeres Strafmaß zu erwarten ist, bevorzugt werden. In den Augen der Gesellschaft wird der Täter zum Helden stilisiert. Die zu Tötung bestimmte Frau wird von dem Urteil nicht in Kenntnis gesetzt; sie kann in der Gesellschaft weder mit Hilfe noch mit Solidarität rechnen. Erst wenn das Blut der vermeintlich Schuldigen fließt, ist die Tat gesühnt und die Ehre der Familie reingewaschen. Niemand wird sich von außen in solch eine innerfamiliäre Lösung des gemeinschaftlichen Problems einmischen. Die ausgeführte Tat kann nach außen als Unfall oder als Selbstmord getarnt werden. Der Mord wird damit gerechtfertigt, dass er die einzige Möglichkeit zur Ehrenrettung der Familie oder zur Einhaltung der relevanten religiösen Gebote darstellt. Dadurch gewinnt der Ehrenmord gesellschaftliche Akzeptanz.

Die beschlossene Ermordung kann sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt begangen werden, er geschieht nicht im Affekt, sondern wird vorsätzlich geplant und geheim gehalten. Die Frau wird gleichsam durch die Selbstjustiz ihrer Verwandtschaft hingerichtet.

Um das Phänomen Ehrenmord besser zu verstehen, muss man sich den Ehrbegriff im Kontext der traditionellen Stammesgesellschaft genauer ansehen. Das Konzept von „Ehre“ und „Schande“ ist im Bereich der patriarchalischen Tradition verwurzelt. Im nahöstlichen Volksislam vermischt sich diese ursprünglich nomadische Tradition mit den später dazugekommenen religiösen Inhalten des Islam. Der Koran problematisiert zwar die Ehre an einigen wenigen Stellen (3,26-27; 49,13; 70,23-35), aber es geht in diesem Zusammenhang um die Ehre, die Allah dem frommen Gläubigen gibt, vor allem dadurch, dass er ihm nach seinem Tod Zugang zum Paradies gewährt. Weder der Koran noch die islamische Überlieferung formulieren einen Ehrenkodex so, wie er vor allem im ländlichen durch die Stammesmentalität geprägten muslimischen Umfeld praktiziert wird. Die Auffassung davon, was „Ehre“ und was „Schande“ ist, wird also vor allem durch die Tradition (ungeschriebenem narrativen Ehrenkodex) bestimmt. Diese wird durch die jahrhundertealten Werte der Nomadenkultur bestimmt, die von den Stammgesellschaften und Familienclans gelebt werden. Seit seiner Entstehungszeit ist der Islam mit Stammesstrukturen verbunden, denn die arabische Halbinsel war zu Lebzeiten Mohammeds vorrangig von Stämmen besiedelt. Besonders im ländlichen Bereich, wo die Familienbande durch Heiraten und gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten stark und die Großfamilien vielfach intakt bleiben, sind die Auffassungen von Ehre und Schande noch heute sehr lebendig. In der Stadt lösen sich diese Strukturen stärker auf, Frauen gehen zur Arbeit, anstatt wie im traditionellen Bereich zu Hause zu bleiben, und die gegenseitige Kontrolle und die Verteidigung der Ehre verliert an Bedeutung. Auch die verzweigten Sozialmedien und die omnipräsente Digitalisierung in allen Regionen der Erde schwächt die Macht der archaischen Traditionen.

Im Kulturareal des Mittleren und Nahen Ostens ist die allgemeine Ehre, so etwas wie erworbener Respekt, von grosser Bedeutung (arab. saraf; türk.: seref). Sie kommt jeden zu, der grosszügig, verlässlich, mutig, stark, gastfreundlich und hilfsbereit ist. Durch diese Eigenschaften wird Ansehen und Ehre erworben. Diese Ehre kann durch gesellschaftlich unangemessenes Verhalten vermindert, aber durch gebilligte Handlungen auch wieder vermehrt werden. Die türkische Sprache kennt darüber hinaus noch einen anderen Ehrbegriff, die Achtung (türk. saygi), die der Jüngere dem Älteren oder Kinder den Eltern gegenüber zu erbringen hat, bezeichnet. Saygi meint das respektvolle Verhalten, insbesondere gegenüber dem Vater, das er als Familienoberhaupt jederzeit geltend machen kann. Eine andere Art von Ehre (arab. ird, türk. namus), das im vorliegenden Essay problematisiert wird, betrifft die sexuelle Reinheit und Unbescholtenheit der Frauen einer Familie, von der nach traditioneller nahöstlicher Auffassung die Ehre einer ganzen Sippe abhängt. Es geht also um die Ehre in Bezug auf das Verhalten der Geschlechter zueinander, für das es insbesondere innerhalb der Stammesgesellschaft eng definierte Grenzen gibt. Man könnte das als sexualisierte Ehre bezeichnen. In der Gesellschaft, wo Sexualität weitgehend tabuisiert und verschlossen gehalten wird, gewinnt sie an einem Überwert. Es reicht unter Umständen eine zufällig nicht bedeckte Haarsträhne oder ein nackter Fuss, um zur starken unkontrollierbaren sexuellen Erregung bei einem Mann, der dass alles partout nicht sehen darf, zu führen. Diese Überbewertung der Sexualität führt im öffentlichen Bewusstsein zu überzogener Wahrnehmung von allem, was zur unkontrollierbaren sexuellen Erregung mit unbedachten Handlungen als Folge führen kann. Bekannterweise wird das, was man heiß begehrt, aber nicht kriegen kann, sanktioniert, verfolgt und bestraft. Ähnlich wie das bei der mittelalterlichen Hexenjagt in Europa der Fall war. Mit der Beurteilung der Frau aufgrund ihres guten Rufes wird sie also in hohem Mass auf ihre Sexualität reduziert, die in der männlich dominierten Gesellschaft als bedrohlich betrachtet wird. Es gilt die Prämisse, die Männer seien gerade unter den Bedingungen der tabuisierten Sexualität an diesem Punkt besonders schwach oder von Lust besessen. Durch provokatives Verhalten einer sexuell attraktiven Frau setzt der Verstand des Mannes aus und kann ihm zu gemeinschaftlich schädlichem Verhalten verleiten, das er später nicht verantworten kann. Somit wird der „verführte“ Mann zum Opfer und die ihm durch ihre sexuelle Attraktivität verführende Frau zur heimtückischen und für die Allgemeinheit gefährlichen Täterin. Im Umkehrschluss ist es Pflicht der Frau, Männer vor Versuchung zu schützen, damit diese nicht dazu verleitet werden, ein Verbrechen (Seitensprung, Vergewaltigung etc.) zu begehen, das schwere soziale und rechtliche Sanktionen zu gewärtigen hat. Denn dadurch werden vermeintlich die ganzen Eigentums- und Erbverhältnisse durcheinandergebracht. Wenn z.B. ein Kind nicht vom Ehegatten, sondern von einem Fremden gezeugt worden ist, wird die geordnete Übergabe von Eigentum in Frage gestellt. Eine freizügige Frau richtet also mittels ihrer sexuellen Anziehung Chaos und somit Schaden in der archaischen Gesellschaft ein. Solch eine Frau soll wie ein schwarzes Schaaf möglichst schnell beseitigt werden, damit die anderen Frauen ihrem Beispiel nicht folgen und so die bestehende Ordnung zuverlässig und konstant gewährleistet wird. Auch im Fall eine Vergewaltigung wird die betroffene Frau in der Regel nicht als Opfer betrachtet, sondern als Täterin, denn die Vergewaltigte bringt Schande über die Familie, nicht der Vergewaltiger, der eher als Opfer der Verführung gesehen wird. Möglicherweise wird eine solche Frau ihren Vergewaltiger heiraten müssen, womit eine mögliche polizeiliche Untersuchung enden würde, denn durch die Eheschliessung gilt das der Familie zugefügte Unrecht als ausgeglichen. Der Vergewaltiger kann seine Frau bald nach der Hochzeit verstoßen, auch dann droht der Frau der Ehrenmord, ebenso, wenn eine Frau von ihrem geschiedenen Mann schwanger geworden ist. Für die Frau bedeutet ehrenhaftes Verhalten also, jeden Kontakt zu nichtverwandten Männern außerhalb der Familie so weit wie möglich zu umgehen, und dort, wo er sich nicht vermeiden lässt, Zurückhaltung zu zeigen: d.h., sich angemessen zu kleiden bis zur kompletten Bedeckung des Körpers, direkten Blickkontakt sowie Unterhaltung jeder Art zu meiden, sich geschlechtsneutral präsentieren. Diese Verhaltenserwartungen an eine weibliche Person korrelieren direkt mit den im Koran und Sunna verbrieften islamischen religiösen Vorschriften. Verhält sich die Frau nicht nach diesen Grundsätzen, wird sie als eine Hure und Schlampe bewertet, die willig ist, aus natürlicher Geilheit mit jedem einen sexuellen Kontakt einzugehen. Solche entfesselte Begierlichkeit der Frau zeugt von Schwäche und Ohnmacht der männlichen Mitglieder der Familie, die so etwas nicht im Griff halten können. An diesem Punkt verletzt die Frau die männliche und familiäre Ehre. Die unter der Schande leidenden Männer werden nicht mehr als Alfa – Männchen angesehen und somit auch im ökonomischen Kontext abgewertet und benachteiligt. Das kann unter Umständen zu Verarmung bzw. Untergang der ganzen Familie führen. Bringt also die Frau die Familie ins Gerede, wird sie somit zum Problem, das aus der Welt geschafft werden muss.

Die beschriebene Art von Ehre muss jede Familie oder Sippe besitzen. Die Ehre ist nur gewährleistet, wenn sich die weiblichen Mitglieder der Familie sich strikt an die gültigen Anstandsregeln halten. Diese Ehre wird im Konfliktfall als wichtiger betrachtet als ein Menschenleben, denn ohne sie glaubt man in dieser tribal geprägten Gesellschaft nicht überleben zu können. Als besonders verwerflich gilt der voreheliche Verlust der Jungfräulichkeit, denn diese muss unter allen Umständen bis zur Hochzeit gewahrt (oder notfalls operativ wiederhergestellt) werden. Als „unehrenhaft“ gilt aber generell auch all das, was nicht von der Familie und Gesellschaft gebilligt wird, also vor allem ein Blick- oder Gesprächskontakt mit einem fremden Mann außerhalb der eigenen Familie. Eine uneheliche Schwangerschaft bedeutet in extrem patriarchalisch geprägten Ländern den sicheren Tod. Bringt die Frau das Kind zur Welt, wird es ebenfalls getötet.

In der Schamkultur des Nahen und Mittleren Ostens ist die Familie jedoch erst dann verpflichtet zu handeln, wenn die Grenzüberschreitung öffentlich gemacht wurde und die Familie als Zeuge oder durch Dritte mit der Ehrverletzung konfrontiert wurde. Solange die Frau z.B. eine heimliche Beziehung unterhält, ist es durchaus möglich, dass die Familie nichts unternimmt, selbst wenn sie von der Regelüberschreitung weiss. Moralisches Fehlverhalten verlangt erst dann nach Konsequenzen, wenn die Öffentlichkeit (z. B. durch eine Schwangerschaft oder auch durch andauerndes Gerede) davon erfährt. In diesem Fall wird nämlich der wirtschaftliche Status der Familie bedroht: Ein Mädchen oder eine Frau, die mit Schande befleckt sind, verlieren jede Chance auf die Eheschliessung. Sie bleiben als eine finanzielle und moralische Last in ihrer eigenen Familie

Die Angst um die Ehre erweist sich somit als Angst vor der Abtrennung von den Ressourcen der Gemeinschaft, im schlimmsten Fall führt es zur sozialen Exkommunikation. Dadurch wird die Ehrverletzung zum essentiellen Problem, dass daher ultimativ gelöst werden muss. Der untadelige Ruf einer Frau in Bezug auf ihr sexuelles Verhalten muss also zu allen Zeiten gewahrt werden. Die Gefahr, einem Ehrenmord zum Opfer zu fallen, beginnt daher mit der Pubertät, kann aber auch eine ältere Frau noch treffen. Kann ein junges Mädchen seinen Ruf nicht untadelig halten, wird sie kaum Heiratschancen haben und als verheiratete oder geschiedene Frau in große Schwierigkeiten geraten. Als ältere Frau ist es ihre Aufgabe, selbst zur Wächterin über die Moral jüngerer Frauen werden. Andere Aspekte, Begabungen, Persönlichkeit, Interessen, Bildung oder anderes sind im konservativen Bereich mittel- und nahöstlicher Gesellschaften für Frauen von weitaus geringerer Bedeutung als ihr guter Ruf, der stets erstes Kriterium für ihre gesellschaftliche Beurteilung und ihren Wert ist. Wenn eine Frau ihr Haus verlässt, betritt sie keinen „neutralen Boden“. Ihr Handeln muss entweder notwendig und zweckbestimmt sein, z.B. wenn sie auf dem Feld zu arbeiten oder unverzichtbare Besorgungen zu erledigen hat. Ansonsten der der Unmoral verdächtigt. Dies gilt auch schon, wenn sie z. B. nur einen „Spaziergang“ im Dorf machen würde. Daher kann die bloße Vermutung oder ein Gerücht über ein von der Norm abweichendes Verhalten genügen, um eine Frau in Verruf zu bringen. Es geht nicht darum, ob sie etwas Unehrenhaftes getan hat; sie hat sich dem Gerede ausgesetzt, das genügt. Sie hat sich durch das Verlassen des Hauses oder das Gespräch der als legitim betrachteten Kontrolle des Mannes entzogen, daher kann ihr Unrecht oder der Wille zur Tat unterstellt werden. Wenn es nur Vermutungen oder Gerüchte gibt, gilt sie als ebenso unehrenhaft wie wenn sie tatsächlich die Regeln des eng definierten Anstands verletzt hätte. Auch wenn eine Frau sich den Beschlüssen ihrer Familie widersetzt und sich z. B. weigert, den ihr zugedachten Ehekandidaten zu heiraten, dem sie vielleicht schon als Kind versprochen wurde, kann die Familie zu der Auffassung gelangen, dass sie ihr Gesicht verloren hat und ihre Ehre verletzt wurde.

Allein der Wunsch nach einem selbstbestimmten (also der sozialen Kontrolle entzogenem) Leben oder das Durchsetzen der eigenen Meinung kann für Frauen schwere Konsequenzen haben. Eine junge Frau hat dann nur die Wahl zwischen der Akzeptanz der vorherbestimmten Eheschließung oder einer (häufig wenig aussichtsreichen) Flucht in die Anonymität der Grossstadt oder dem Tod. Auch eine spätere Trennung von ihrem Ehemann oder der Versuch einer Scheidung kann ihre Herkunftsfamilie als Ehr- und Gesichtsverlust werten.

Andere schwerwiegende Gründe für einen Ehrenmord betreffen uneheliche Schwangerschaften. Eine ledige Mutter ist der großen Gefahr eines Ehrenmordes ausgesetzt. Warum eine nicht verheiratete Frau schwanger wurde, wird kaum je erfragt werden. Eine uneheliche Schwangerschaft wird als ihre alleinige Schuld betrachtet, unabhängig davon, ob sie freiwillig ein Verhältnis einging oder Opfer eines Verbrechens wurde: Sie selbst hat sich nach Ansicht der Familie in eine Lage gebracht, in der sie den Schutz der männlichen Familienmitglieder verlassen hatte. Auch wenn eine Frau durch ein Verbrechen innerhalb der Familie schwanger wird (durch Inzest), ist die Folge in der Regel der Tod der Frau, nicht des Mannes.

Die Ehrenmorde aus wirtschaftlichem Kalkül, z. B. aufgrund der Verweigerung eines Erbteils oder aufgrund der Weigerung einer Frau, auf ihr Erbe zu verzichten, sind in einigen Gebieten, beispielsweise in Pakistan, keine Seltenheit. Oder geschieht Ehrenmord, wenn z. B. eine Familie hoch verschuldet ist, ein weibliches Familienmitglied aufgrund vermeintlich unmoralischem Verhaltens tötet (als kari) und denjenigen, bei dem die Familie Schulden hat, als ihren Liebhaber (karo) bezeichnet. Dann ist dieser Beschuldigte aufgrund der großen Bedeutung eines solchen Gerüchtes verpflichtet, die bestehenden Schulden als Kompensation für den vermeintlichen Ehrverlust der Familie zu erlassen. Oder ein Mann ermordet eine Frau seiner Familie und fordert von einer anderen Familie eine große Summe Geld, deren männliches Mitglied er als Ehebrecher bezeichnete. Wenn in Pakistan ein Heiratskandidat die Tochter einer Familie heiraten will, diese sie ihm aber verweigert und er den Bruder der Frau als Ehebrecher bezeichnet, kann er dessen Schwester als „Kompensation“ für das erlittene Unrecht des Ehrverlustes erhalten mit der Verpflichtung, den Bruder nicht zu töten. Hier werden die immensen gesellschaftlichen Ängste vor Ehrverlust und der durch Gerüchtestreuung ausgeübte Machtmissbrauch besonders deutlich. In einigen Fällen werden Frauen in Afghanistan wie Pakistan zur Beilegung eines Stammeskonflikts getauscht oder ein junges Mädchen als Friedensgabe einem verfeindeten Stamm übergeben. Ein an der Frau verursachtes Unrecht, durch Zwang, Nötigung oder Vergewaltigung wird zu keinem Zeitpunkt thematisiert, nur das dem Mann durch den Ehrverlust zugefügte Unrecht verlangt nach Kompensation oder Strafe. Das steht in Zusammenhang mit der in Stammesgesellschaften üblichen Auffassung von der Verfügbarkeit der Frau, ihrer Rolle als eine Gebärmaschine, einem Besitzdenken ohne Mitspracherecht der Betroffenen. Der Mann gilt als wertvollere Arbeitskraft und Ernährer, die Frau dagegen ist eher eine Last. Auch wenn sich eine junge Frau in der Hochzeitsnacht, aus welchen Gründen auch immer, nicht eindeutig als Jungfrau erweist, droht ihr aus Gründen der Ehre der Tod. Die Notwendigkeit zum Erhalt der Jungfräulichkeit hat auch noch andere, mit der Ehre verknüpfte Aspekte: Nur für eine Jungfrau kann die Familie einen hohen Brautpreis fordern, für eine geschiedene oder verwitwete Frau ist er stets viel geringer. Schon deshalb darf eine Ehe nicht unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen (der Unberührtheit der Frau) geschlossen werden, denn die Familie des Bräutigams wird sich andernfalls als gesellschaftlich und wirtschaftlich betrogen betrachten. Wenn man die archaische Eheschliessung als einen vertraglichen Kaufakt betrachtet, folgt daraus, dass man einer betrogenen Familie eine verdorbene Ware verkauft hat, die nun entsorgt werden soll. Solch eine Braut hat damit die Ehre der gesamten Familie ruiniert, ihren Ehemann gedemütigt und in den Augen der Gesellschaft ihren unsittlichen vorehelichen Lebenswandel bewiesen. Ihr Ehemann wird sie in der Regel zu ihrer Familie zurückschicken, die die Tochter dann entweder rasch unter ihrem Stand anderweitig verheiraten oder töten wird. Bei Aufdeckung eines außerehelichen Verhältnisses wird in den meisten Fällen nur die Frau getötet, ihr Verlust kann rein wirtschaftlich am ehesten verkraftet werden. Würde der schuldige Mann, z. B. der Vergewaltiger, getötet, würde zum einen ein Sohn oder Vater, ein Verdiener oder Verteidiger einer Familie wegfallen, zum anderen würde der Tod eines Mannes in einer Stammesgesellschaft eine u. U. lange währende Blutrache nach sich ziehen; während der Tod einer Frau dergleichen nicht erfordert. Dem liegt altarabisches Gewohnheitsrecht zugrunde, aber auch der im Islam formulierte Grundsatz, dass das Blutgeld für eine Frau stets niedriger anzusetzen ist als für einen Mann, bei dem der wirtschaftliche Verlust gravierender ist.

Generell ist die Bindung des Ehemanns an die die Ehefrau weniger eng als an die Herkunftsfamilie, denn der Ehemann kann sich von der Frau, nach islamischem Recht relativ unkompliziert scheiden, die Herkunftsfamilie ist jedoch auf immer mit ihm verbunden.

Verteidigt ein Vater oder Bruder die Familienehre nicht und die Schmach eines Übergriffs auf die Familie von außen bleibt für jeden sichtbar ungesühnt, wird ein solcher Mann nun seinerseits als schwach, unmännlich und ehrlos beurteilt werden. Er verliert sein Gesicht, und als Schwächling kann er sich keinen Respekt verschaffen. Möglicherweise verliert er sogar seinen Besitz oder seine wirtschaftliche Existenz, in der er von der Gemeinschaft abhängig ist. Er wird daher schon beim Aufkommen eines Gerüchts drastisch und für jeden sichtbar handeln, seiner Tochter oder Frau Grenzen setzen (sie einsperren), sie herabsetzen (misshandeln) oder sogar töten, um seine Stärke und Macht öffentlich unter Beweis zu stellen. Andernfalls gilt er seinerseits als ehrlos, wird geringgeschätzt, betrogen und verspottet.

Die archaische Tradition der Ehrenmorde ist wesentlich älter als der Islam. Diese Tradition ist in archaischer Nomadenmentalität verwurzelt. Die Werte wie Solidarität, Zuverlässigkeit und Vertrauen sicherte das Überleben des Stammes unter erschwerten Bedingungen der schroffen Natur. In stets von Feinden bedrohten Nomadengesellschaften war die Rolle der Frau hauptsächlich auf die Sicherung der Nachkommenschaft reduziert. Der Mann musste sicher sein, dass die Erben auch seine eigenen Kinder, von seinem Blut, sind. Dies diente dazu, die Reinheit der Grossfamilie zu gewährleisten und somit auch das Privateigentum und die korrekte Ausführung der Erbrechte zu sichern. Diese Garantie war von der Treue der Frau bzw. der Frauen abhängig.

In einem Stamm übten die die Ältesten die Gerichtsbarkeit aus. Wenn diese ein Urteil fällten, musste es von einem Stammesmitglied ausgeführt werden. Mit dem Islam, insbesondere sunnitischen Prägung, verlor das das Blutrecht an Bedeutung und an seine Stelle trat ein Gericht, dass seine Prinzipien und Gesetze aus islamischen Quellen schöpften.

Der klassische Ehrenmord innerhalb einer Grossfamilie findet in den islamischen religiösen Quellen keinen wörtlichen Rückhalt, Begründung oder Anleitung. Wenn aber eine Gesellschaft Stammesgesetzen folgen und dabei islamische moralische Inhalte verinnerlicht haben, konnte es bei einer davon bestimmten Leseart des Koran dazu führen, dass die strengen Normen des Geschlechterverhältnisses mit der tradierten Strafjustiz bestimmter Sexualvergehen zu zu einem Todesurteil führten.

In diesem Fall übernahmen die Stammesältesten beim Fällen des Urteils gleichsam die Rolle eines schariatischen Gerichts. Schliesslich sind die hudud Strafen, auch für nachgewiesenen Ehebruch, im islamischen Recht verankert. Im Unterschied zum archaischen Stammesgericht, verlangt eine Steinigung mehrere Zeugen. Es wurde niemals nur auf Grund des vermeintlich schlechten Rufes der Frau oder des Geredes über sie angewendet.

Unbestritten ist, dass Ehrenmorde heute, wenn auch nicht ausschließlich, so doch meistens in islamischen Gesellschaften vorkommen. Dort sind vor allem im ländlichen Bereich viele Gesellschaften bis heute von halbfeudalen Strukturen geprägt, in denen sehr streng definierte Verhaltensnormen für Mann und Frau weithin unhinterfragt gelten und die Frau de facto häufig als eine Art „Eigentum“ des Mannes behandelt wird. Diese Verhaltensnormen werden größtenteils mit dem Islam begründet, im Kollektiv überwacht und Grenzüberschreitungen vor allem Frauen Schuld zuschreibend zur Last gelegt.

In einer islamischen Gesellschaft ist Sexualität auf den Mann zentriert und hierarchisch bestimmt. Der Mann ist der Berechtigte, in Bezug auf die Ausübung seiner Sexualität zu handeln, während die Frau in einer Ehe zum sexuellen Gehorsam verpflichtet ist. Die Vorstellung einer gleichberechtigten Partnerschaft ohne Gehorsamsprinzip ist dem islamischen Eherecht und der traditionellen islamischen Gesellschaft fremd. Das Ehe- und Familienrecht ist Bestandteil der Scharia. Daher umfasst die Gestaltung der Sexualität in der muslimischen Ehe auch schariarechtliche Aspekte. Der weibliche Körper hat nach mehrheitlicher Auffassung im Islam eine passive und zugleich dienende Funktion. So sagt Sure 22,23: „Eure Frauen sind euch ein Acker. Gehet zu eurem Acker, wann ihr wollt; aber schickt (etwas) zuvor für eure Seelen und fürchtet Allah und wisst, dass ihr Ihm begegnen werdet. Und verkündet Freude den Gläubigen.“ Aus diesem Vers leitet die traditionelle muslimische Theologie das weitgehend unbeschränkte Recht des Mannes auf eheliche Sexualität ab. Die Frau unterliegt durch die religiösen Gebote wie durch die Gesellschaft einer ständigen sozialen Kontrolle. Der Körper der Frau und ihre Sexualität sind Zeichen der Würde der ganzen Gemeinschaft. Darum lastet auch ein hoher gesellschaftlicher Druck auf der Frau, sich gemäß den allgemein anerkannten Anstandsregeln zu verhalten. Der Koran weist die Frauen an, schamhaftes Verhalten zu zeigen: „Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham hüten und dass sie nicht ihre Reize zur Schau tragen, es sei denn, was außen ist, und dass sie ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten zeigen oder ihren Vätern oder den Vätern ihrer Ehegatten oder ihren Söhnen oder den Söhnen ihrer Ehegatten oder den Brüdern oder den Söhnen ihrer Brüder oder den Söhnen ihrer Schwester oder ihren Frauen oder denen, die ihre Rechte besitzt, oder ihren Dienern, die keinen Trieb haben, oder Kindern, welche die Blöße der Frauen nicht beachten. Und sie sollen ihre Füße zusammenschlagen, damit nicht ihr verborgener Zierat bekannt wird. Und bekehret euch zu Allah allzumal, o ihr Gläubigen; vielleicht ergeht es euch wohl.“ (24,31). Der Mann dominiert in diesem Gesellschaftskonzept die Frau und gilt ihr als überlegen. Die Frau muss ihre sexuellen Wünsche den Regeln der Gemeinschaft unterordnen, ja, der Koran ordnet den Mann der Frau vor und räumt ihm sogar ein Züchtigungsrecht ein: „Die Männer sind den Frauen überlegen wegen dessen, was Allah den einen vor den anderen gegeben hat, und weil sie von ihrem Geld (für die Frauen) auslegen. Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam in der Abwesenheit (ihrer Gatten), wie Allah für sie sorgte. Diejenigen aber, für deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet – warnet sie, verbannt sie in die Schlafgemächer und schlagt sie. Und so sie euch gehorchen, so suchet keinen Weg wider sie; siehe Allah ist hoch und groß.“ (4,34). Hier gehen Kultur und Religion ein Bündnis ein, indem die traditionelle nah- bzw. mittelöstliche Kultur die Auslegung dieser Koranverse vorgibt.

Als verstärkender Faktor für das Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau in islamischen Ländern kommt die im islamischen Eherecht verankerte Forderung nach Gehorsam der Ehefrau ihrem Ehemann gegenüber hinzu, fußend auf Sure 4,34 und zahlreichen Überlieferungen Muhammads, die die herausgehobene rechtliche und gesellschaftliche Stellung des Mannes betonen und nach überwiegender traditioneller Meinung muslimischer Theologen eine maßvolle Züchtigung der Ehefrau im Konfliktfall mit einschließen (vgl. Sure 4,34). Auch wenn manche Theologen diese Deutung ablehnen und in modernen muslimischen Familien die Praxis anders aussieht, schaffen die tradierten Texte und konservativen Auslegungen in islamisch-patriarchalischen Gesellschaften doch ein Klima, in dem Gewalt gegen Frauen vielfach toleriert und als zum normalen Alltag gehörig betrachtet wird. Das gilt insbesondere für das Gehorsamsprinzip und die Einschränkung von Frauenrechten, z. B. was Bildung, Selbstbestimmung und persönliche Freiheiten angeht.

Muslimische Theologen betonen insbesondere die Pflicht zum sexuellen Gehorsam der Frau als eine der Grundkomponenten der ehelichen Nachordnung der Frau; ein Faktor, der das gesellschaftliche Bewusstsein für ihre untergeordnete Stellung sowie für die weisungsberechtigte Position des Mannes mitprägt. Mag sich diese Sicht und Praxis auch in der städtischen Oberschicht graduell verändert haben, gilt sie doch nach wie vor in großen Teilen muslimischer Gesellschaften fast unangefochten. Dort schafft eine vorindustrielle, wenig entwickelte, kollektivistisch ausgerichtete Gesellschaft und eine patriarchalisch und an den Werten des traditionellen Islam ausgerichtete Lebensweise und Kultur ein Klima, das der Frau die alleinige Verantwortung für die Wahrung der Ehre zuweist, auch wenn der Koran und die muslimische Theologie vor- und außereheliche Beziehungen mit der Steinigung bzw. Auspeitschung für Mann und Frau unter dieselbe Strafe stellen. In der Praxis wird jedoch in einem solchen Umfeld der Frau einseitig die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Moral zugewiesen, wobei die Kultur und Tradition eine größere Rolle spielen als die orthodoxe Theologie. Eine mit islamischen Werten begründete traditionell-konservative Auffassung der Rolle der Frau schafft also ein begünstigendes Klima für die Kontrolle der Frau, für die Legitimierung der Anwendung von Gewalt und damit in gewisser Weise auch für den Ehrenmord. Zwar haben sich in verschiedenen Ländern hin und wieder religiöse Führerpersönlichkeiten gegen den Ehrenmord ausgesprochen. Ihre Worte führen aber nicht zu einem grundsätzlichen gesellschaftlichen Umdenken, da die „gefühlte“ Berechtigung für den Ehrenmord leider groß ist.

 

Literaturverzeichnis

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www.qantara.de Sexualität und Weiblichkeit in islamischen Gesellschaften
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www.orientierungm.de/muslime/minikurs/ehre_schande_lebenskonzept

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