Nr. 30 (1999)

Zur Religion des jungen Goethe

Nr. 30 (1999)

Von Karl Dienst
  1. Bekenntnis oder Rollenspiel?

(1) Die Behandlung einiger Aspekte der Religiosität des jungen Goethe unter besonderer Berücksichtigung der damaligen Frankfurter religiösen Verhältnisse hat zunächst die Vieldeutbarkeit der Äußerungen des Dichters zu unserem Thema, ihren Metapher-Charakter zur Kenntnis zu nehmen: Goethe wurde (und wird) für ganz verschiedene Interessen in Anspruch genommen, die die Interpretation jeweils „kanalisieren“! So pries das freigeistige 19. Jahrhundert

in ihm den Religionsverächter und großen Heiden; David Friedrich Strauß und Ernst Haeckel haben sich auf ihn berufen. Der liberale Kulturprotestantismus wiederum sah im Dichter des „Faust“ eher einen modernen Christen, während neoklassische Ausleger Goethes Religion als eine neue Offenbarung des weltimmanenten Göttlichen und Goethe als Begründer einer vom Christlichen gelösten „Weltfrömmigkeit“, ja eines neuen Heidentums priesen [1]. Inzwischen gelten solche Versuche, Goethes religiöses Denken als Doktrin zu fassen, trotz seiner Empfehlung, seine Schriften als „Bruchstücke einer großen Confession“ zu lesen, als problematisch. Schon der Titel seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ deutet auf den poetischen Anteil an der Selbstreflexion hin. „Bereits in den frühen 1770er Jahren beginnen bürgerliche Individuen erfolgreich, über ihre Individualität nachzudenken und sie literarisch zu inszenieren. Das Medium dieses Rollenspiels ist die Literatur“[2]. Die Idee einer substantiell gegründeten Individualität, die notwendig sich entwickelt und produziert, ist im Blick auf Goethe wohl eher „als Regulativ der Selbstverständigung“[3] zu betrachten. Noch deutlicher formuliert das Gerhard Sauder [4]: „Der religiöse Weg des jungen Goethe bedarf dringend einer neuen synthetischen Darstellung. Es. dürfte angesichts unserer heutigen Kenntnisse nicht mehr möglich sein, ein ‚Weltbild‘ des jungen Goethe zu konstruieren. Vielmehr ist von experimentierenden Lebensphasen auszugehen, in welchen sich lutherische Orthodoxie, Pietismus, Hermetik und die Konstruktion einer Privatreligion in fließenden Übergängen abzeichnen“.

(2) Zur Differenzierung rät auch der Altmeister der Frankfurter Kirchengeschichte Hermann Dechent[6]: „Willst du den Dichter recht verstehen, mußt du in Dichters Lande gehn“. Es fällt auf, daß in der immensen Goethe-Auslegung die spezifisch Frankfurter religiös–kirchlichen Verhältnisse eher am Rande behandelt werden. Diesem Defizit wende ich mich im Folgenden besonders zu, geht es doch beim jungen Goethe vorwiegend um dessen Frankfurter Zeit (bis 1775).

  1. Die Frankfurter religiös-kirchlichen Verhältnisse zur Goethezeit

„Goethe hat eine streng lutherische Sozialisation erhalten. . . (Aber) er hat noch vor seiner Abreise nach Leipzig von seiner kirchlichen und christlichen Sozialisation Abschied genommen. In Leipzig wird er dadurch auffallend daß er . . . Kirche und Gottesdienst nicht mehr besucht und auch auf das Abendmahl verzichtet“[6]: Diese Bemerkung Sauders provoziert die Nachfrage, was in Frankfurt als „streng lutherisch“ galt!

(1) Zunächst galt der Augsburger Religionsfrieden von 1555, der das Nebeneinander von lutherischer, d. h. der „Ausburgischen Confession zugetanen“ Mehrheitskonfession und der katholischen, sich vor allem auf die drei Stifte (St. Bartholomäus, St. Leonhard, Liebfrauen) und die Klöster stützenden Minderheitskonfession festgeschrieben hatte. Die aus Flüchtlingsgemeinden hervorgegangenen Frankfurter „reformierten“ Gemeinden (mit ca. 2000 Mitgliedern) erhielten erst durch das „Willfahrungsdekret“ des Frankfurter Rats vom 15.11.1787 das Recht des „Exercitium religionis privatum“: Ihnen wurde „Predigen, Singen, Beten, Katechisieren und Abendmahlsausteilung“ (an Kranke auch in deren Wohnung) in zwei „Bethäusern“ ohne Turm und Glocken gestattet; das Recht zur Taufe und Trauung blieb weiterhin bei den lutherischen Pfarrern. Neben der Unterstützung durch reformierte Reichsstände, durch das für Österreich 1781 durch Kaiser Joseph II. erlassene Toleranzedikt und durch das Vorbild des lutherischen Hamburger Senats, der 1785 die freie Religionsausübung in der Hansestadt zuließ, war das „Willfahrungsdekret“ vor allem eine Auswirkung des Toleranzgedankens im Kontext von Pietismus und Aufklärung, der schließlich in Frankfurt das (vor allem) auch auf Mißtrauen gegenüber einem wirtschaftlichen und politischen Machtstreben der Reformierten beruhende Verbot des reformierten Gottesdienstes überwand; die volle bürgerliche Gleichberechtigung wurde den Reformierten aber erst in der Dalberg-Zeit (Fürstentum bzw. Großherzogtum Frankfurt: 1806 bzw. 1810) eingeräumt. Bis 1787 besuchten Frankfurts Reformierte den Gottesdienst im Hanauischen Bockenheim. Auch Goethe hat dort den reformierten Gottesdienst verschiedentlich besucht; allerdings hat er in seinem Bericht in „Dichtung und Wahrheit“ eher die glänzende Seite dieses „Exils“ und nicht die Alltagssituation vieler Reformierter wahrgenommen: „Die sogenannten Reformierten bildeten, wie auch an anderen Orten die Refugiés, eine ausgezeichnete Klasse, und selbst wenn sie zu ihrem Gottesdienst in Bockenheim sonntags in schönen Equipagen hinausfuhren, war es immer eine Art von Triumph über die Bürgerabteilung, welche berechtigt war, bei gutem wie bei schlechtem Wetter in die Kirche zu Fuß zu gehen“, womit er die Frankfurter Lutheraner meinte [7]. Auf der anderen Seite hatte der Frankfurter Rat schon 1755 zur 200-Jahr-Feier des Augsburger Religionsfriedens eine Silbermünze prägen lassen mit der Mainansicht und der Francofurtia, zu deren Füßen drei Kinder spielen: die lutherische, die reformierte und die katholische Religion. Ein Hinweis auf das allmähliche Zurücktreten des politischen und kirchlichen Beharrens auf dem Herkommen findet sich auch darin, daß auch Lutheraner zum Baufonds der reformierten Kirchen beitrugen: „Als eine kranke, bettlägerige Dienstmagd durch die Spende ihrer Ersparnisse von 11 Gulden den Anfang gemacht hatte, folgte ihrem Beispiel ein lutherischer Apotheker mit einer aus eigenem Impuls erzielten Kollekte von 530 Gulden. Und auch aus dem Vermögen der Susanna von Klettenberg, Goethes mütterlicher Freundin, floß ein Legat von 500 Gulden“[8].

(2) Die Frankfurter (lutherische) Landeskirche erstreckte sich auf das alte Stadtgebiet (innerhalb des heutigen Alleenrings) und Sachsenhausen sowie auf die Dörfer Dortelweil, Bonames, Nieder-Erlenbach, Oberrad, Hausen, Bornheim und drei Viertel von Niederrad. Im eigentlichen Stadtgebiet einschließlich Sachsenhausen gab es (bis 1899) nur eine einzige lutherische Kirchengemeinde mit sechs (der Stadt gehörenden) Kirchen (Barfüßer bzw. St. Pauls, St. Katharinen, St. Peter, Weißfrauen, Dreikönig, Hospital bzw. St. Nicolai) und 12 von der Stadt bezahlten Pfarrern [9]. Eine Parochialeinteilung mit Pfarrzwang gab es nicht; jeder konnte sich seinen Pfarrer wählen [10]. Goethe besuchte z.B. die Predigten des Seniors Dr. Plitt, aber nicht ex officio, sondern aus freier Wahl. Der Frankfurter lutherische Gottesdienst bediente sich auch nicht der lutherischen Messe, sondern des mittelalterlichen, vor allem bei den Reformierten üblichen Predigtgottesdienstes. Jeder Pfarrer hatte so seine (größere oder kleinere) „Personalgemeinde“, die auch „Beichtstuhl“ genannt wurde [11]. Noch zu Goethes Frankfurter Zeit herrschte in der Reichsstadt die „Privatbeichte“, die jeweils einen Tag vor dem Abendmahlsempfang in der Kirche, in der das Abendmahl gefeiert wurde, stattfand und in der sich alle Frankfurter Pfarrer einfanden, um die Einzelbeichte abzunehmen. Dies geschah so, daß das Beichtkind dem von ihm frei gewählten Pfarrer einzeln ein agendarisch formuliertes Beichtbekenntnis im Beichtstuhl vortrug und daraufhin absolviert wurde. Ähnlich wurde mit der Konfirmation verfahren: Noch zur Zeit Goethes schickten die Eltern ihre Kinder (Mindestalter: 12 Jahre) vor dem ersten Abendmahlsempfang zu einem Pfarrer ihrer Wahl ins Pfarrhaus zum Unterricht, zur Prüfung und zur Einsegnung („Privatkonfirmation“). Vor allem die Beichtpraxis stieß auf Goethes Kritik. Diese war aber nicht eine die Person Goethes besonders auszeichnende Angelegenheit, sondern in Verbindung mit der Kirchen- und Pfarrerkritik ein Kennzeichen radikalpietistischer Kreise auch in Frankfurt.

(3) Die Kirchenverfassung Frankfurts hatte sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt und war auch nicht in einer Urkunde geregelt. Bis 1726 wurde das Kirchenregiment rein weltlich vom Rat durch zwei Ratsdeputationen (Sendenamt und Scholarchat) ausgeübt. 1728 ging es auf ein (paritätisch besetztes) Konsistorium über, das aus weltlichen und geistlichen Mitgliedern bestand. Mit dieser dann 1816 erneuerten Konsistorialverfassung verzichtete der Rat (bzw. Senat) weitgehend auf das ihm nach damals herrschender Auffassung zustehende Kirchenregiment. Das Frankfurter lutherische Kirchenwesen war schon relativ früh durch eine gewisse Unabhängigkeit vom Staat gekennzeichnet.

III. Das Andere Frankfurt

(1) Goethe hat in seinen Erinnerungen die Besonderheit der Frankfurter in reichsstädtischer Zeit dahin gekennzeichnet: „In einer Stadt wie Frankfurt, wo drei Religionen die Einwohner in drei ungleiche Massen teilen, wo nur wenige Männer, selbst von der herrschenden, zum Regiment gelangen können, muß es gar manchen Wohlhabenden und Unterrichteten geben, der sich auf sich zurück zieht und durch Studien und Liebhabereien sich eine eigene und abgeschlossene Existenz bildet.

Von solchen wird die Rede sein müssen, wenn man sich die Eigenheiten eines Frankfurter Bürgers aus jener Zeit vergegenwärtigen soll“[12]. – Neben dem „amtlichen“ kann von dem „Anderen Frankfurt“ gesprochen werden, das sich weniger in der Öffentlichkeit als in „Kleinen Kreisen mit Sonderbedürfnissen“ abspielte. Außer der eher politisch-soziologischen Begründung hat Goethe dafür auch eine religiös-kirchliche: „Was man uns überlieferte, war eigentlich nur eine Art von trockener Moral: an einen geistreichen Vortrag ward nicht gedacht, und die Lehre konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Deswegen ergaben sich gar mancherlei Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Herrenhuter, die Stillen im Lande und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle bloß die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu sein schien“. Aber auch Rabbiner als Vermittler kabbalistischen Wissens, Rosenkreuzer, Illuminanten, Spiritualisten und vor allem radikale Pietisten trugen auf ihre Weise zur Vielfalt des Frankfurter religiösen und Geisteslebens bei. – Im Blick auf dieses „Andere Frankfurt“ nennt Goethe z.B. seinen Großonkel Johann Michael von Loen (1694-1776), dessen Schriften (z.B. „Evangelischer Friedenstempel nach der Art der ersten Kirche entworfen“; 1724. – „Die einzig wahre Religion, allgemein in ihren Grundsätzen, verwirret durch die Zänckereyen der Schriftgelehrten, zertheilet in allerhand Secten, vereiniget in Christo“, (1750/52) in das Umfeld des mystischen Spiritualismus weisen. In diesen Umkreis gehört auch der in Berleburg durch den religiösen Individualisten, Alchimisten und Spiritualisten (Betonung des „inneren Wortes“ gegen „Bibliolatrie“, des „Christus in uns“ gegen stellvertretende Genugtuung Christi) Johann Konrad Dippel (1673-1734) erweckte zeitweilige Leibarzt des Landgrafen Friedrich III. von Hessen-Homburg Johann Christian von Senckenberg (1707-1772), dessen Name mit dem Frankfurter Bürgerspital und der „Naturforschenden Gesellschaft“ eng verbunden ist und der auch durch Heiraten verwandtschaftliche Beziehungen zu Frankfurter radikalpietistischen Kreisen knüpfte. Seine Verbindung zu “ Inspirierten“ und „Separatisten“ schloß auch solche zu Alchimisten (Johann Samuel von Ploennis; Dippel, der statt Gold den Farbstoff „Berliner Blau“ erfand) ein. Goethe nennt weiter den Schriftsteller und hessischen Residenten in Frankfurt Friedrich Karl von Moser (1723-1796) und vor allem den Kreis um Susanna Katharina von Klettenberg (1723-1774), die ursprünglich vom Halleschen Pietismus beeinflußt war, sich aber unter Mosers Einfluß Zinzendorfs Brüdergemeine zuwandte, ohne aber ihre Selbständigkeit aufzugeben. Neben ihrer christozentrisch bestimmten Frömmigkeit spielte bei ihr die pansophisch-neuplatonische Magie eine Rolle; ihre alchimistischen Versuche verstand sie im Geiste der christlichen Pansophie als Weg zur wahren Gotteserkenntnis. Mit Susanna von Klettenberg vertiefte sich Goethe in die Welt der Hermetik, in der naturmystische Vorstellungen, religiöse Popularphilosophie, Naturwissenschaften, Medizin, Alchimie und Theologie zusammenflossen. Vor allem nach seiner Heimkehr aus Leipzig, einem ebenfalls radikalpietistischen Stützpunkt, hat der Frankfurter Moser-Klettenberg-Kreis Goethe unter dem Eindruck seiner Krankheit so nachhaltig berührt, daß sich Spuren bis in die Alterswerke verfolgen lassen. Auch hat dieser Kreis eine wichtige Rolle bei Goethes Weg aus der Christengemeinde als rechtlich geordneter Religionsgesellschaft in Richtung individuell gewählter Gesinnungsgemeinschaften durch die Pflege eigenen geistig-seelischen Sonderbedürfens gespielt. – Endlich erwähnt Goethe den Dechanten von St. Leonhard und Beichtvater der Familie Brentano Damian Friedrich Dumeiz (1728-1802), einen Vertreter des rheinfränkischen Reichskatholizismus im Kontext des sog. Febronianismus: „Der Dechant war der erste katholische Geistliche, mit dem ich in nähere Beziehung trat und der, weil er ein sehr hellsehender Mann war, mir über den Glauben, die Gebräuche, die äußeren und inneren Verhältnisse der ältesten Kirche schöne und hinreichende Aufschlüsse gab“; ein Niederschlag dieser Gespräche findet sich in Goethes „Pastorenbrief“ (1773).

(2) Die Entstehung kleiner religiöser Kreise stellt eine Parallele zur Verschiebung bürgerlicher Kommunikationsgewohnheiten im Pietismus und in der Aufklärung dar. Trat auf säkularem Gebiet neben das Wirtshaus das Kaffeehaus, an die Stelle des Besuchs der Morgenpredigten die Abendgesellschaften, so schwanken auf religiösem Gebiet die kleinen Gruppen zwischen einer Ergänzung der Institution Kirche (so Speners Konzeption der ecclesiola in ecclesia) und deren Ersatz im radikalen Pietismus [13] mit seinen Kennzeichen Gleichgültigkeit bzw. Ablehnung der Institution Kirche, Tendenz zur Trennung von der als unheilbar verderbt und irreformabel angesehenen „Amtskirche“, Gleichgültigkeit gegenüber den kirchlichen Lehrnormen, Ablehnung der Bekenntnisbindung und Tendenz zur Heterodoxie, d. h. zur Ausbildung eigener, vom kirchlichen Bekenntnis abweichender religiöser Anschauungen. Was die gesellschaftlichen Gruppen anbelangt, die Träger der radikalpietistischen Bewegungen waren, so scheint es, daß diese vor allem aus den sozialen Gruppen Anhänger gewannen, die von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungen besonders betroffen waren, etwa aus der Handwerkerschaft und dem Adel. Unter den literarisch hervorgetretenen Wortführern finden sich neben Handwerkern vor allem Akademiker (Theo1ogen, Juristen, Mediziner) [14]. Die Übertragung des Schwärmerbegriffs der Reformationszeit auf die radikalen Pietisten trägt auch deren Anknüpfung an älteres mystisch-spiritualistisches und pansophisch-kabbalistisches Gedankengut Rechnung. Mit ihrem Eintreten für Glaubensfreiheit und Toleranz können diese auch Wegbereiter der Aufklärung genannt werden, wobei allerdings auch wichtige Unterschiede festzustellen sind: Einmal hängen im Radikalpietismus „Schwärmerei“ und Toleranz zusammen. Sodann spielen Diesseitsangst und endzeitliche Wirklichkeitsdeutung, also eschatologische Deutungsmuster eine wichtige Rolle, die sich bis hin zu kirchenrevolutionären Umtrieben z.B. im hessischen Raum (Grafschaften Solms-Laubach und Wittgenstein) mit philadelpisch-apokalyptischem Hintergrund auswirkten und auch zu einer Wiederbelebung des im orthodoxen Luthertum gemäß Artikel 17 des Augsburger Bekenntnisses abgelehnten „Chiliasmus“ führten, d.h. der Erwartung eines Tausendjährigen Reiches auf Erden vor dem Jüngsten Tag gemäß Offenbarung des Johannes Kap. 20.

(3) Auf eine wichtige Folge dieses auf Philipp Jakob Spener (1635-1705), der von 1666 bis 1686 als lutherischer Senior in Frankfurt wirkte und als Begründer des lutherischen Pietismus gilt, mit zurückgehenden Perspektivenwechsels von der Naherwartung des Jüngsten Tages hin zum Chiliasmus sei hingewiesen: War z.B. nach Hermann Dechent und Erwin Kleinstück [16] die Wahrnehmung der Juden durch die Christen in Frankfurt eher durch eine gewisse „Exotik“ (Ghetto, Kabbala, Feste und Gebräuche) bestimmt, so kommt es im Pietismus durch die Wiederbelebung des Chiliasmus zu einer Ausweitung der Wahrnehmung. Über eine allgemeine Hoffnung auf die Bekehrung der Juden hinaus werden in diesem chiliastischen Konzept die Hoffnung auf den Anbruch des Tausendjährigen Reiches als eines „glücklichen Zustandes der Kirche vor dem Jüngsten Tag, in dem alle Häresien und Verfolgungen, Kriege und Tyrannis abgeschafft sind“, mit der Bekehrung der Juden in einem spezifischen Sinne verbunden: Das unglaubwürdige Verhalten der evangelischen Christen verhindere die Bekehrung der Juden und trage somit zu einer Verzögerung des Anbruchs des Tausendjährigen Reiches bei. Die Kritik gilt hier eindeutig der eigenen Konfession! Sie schulde den Andersgläubigen und Irrenden herzliche Liebe; wegen ihrer Religion dürfe ihnen kein Schimpf oder Leid angetan werden. Insgesamt kündigt sich hier ein neues Klima und Verfahren im Verhältnis zu Andersgläubigen an, wobei aber der Wahrheitsanspruch der eigenen Konfession nicht aufgegeben ist. – Noch einen Schritt weiter geht der radikale Pietist und Freund Dippels Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1669/70-1721). Angesichts des von ihm 1700 erwarteten Anbruchs des Tausendjährigen Reiches richtete er im Dezember 1699 ein Schreiben an die Juden in Frankfurt und der Wetterau, in dem er sie zur Buße aufrief und dabei an ihre messianischen Hoffnungen appellierte, aber ausdrücklich keine Bekehrung zum Christentum von ihnen verlangte. Israel geht, so seine Überzeugung, seinen eigenen Weg, wird aber in dem wiederkommenden Christus seinen erwarteten Messias erkennen. – Bei diesen Vorbereitungen auf den baldigen Anbruch des Tausendjährigen Reiches richteten sich die Hoffnungen zunächst auf Frankfurt/Main als „Zion“; die Stadt wurde zeitweise zur Drehscheibe radikalpietistischer Betriebsamkeit 8179. Vielleicht haben die Erinnerung an Spener und die Größe der jüdischen Gemeinde die Erwartung genährt, daß sich gerade in Frankfurt Besonderes ereignen werde. Der Frankfurter Rat ging allerdings entschieden gegen die „irrig lehrenden Schleicher“ vor! – Daß bei der Wiederbelebung des Chiliasmus in Deutschland auch Einwirkungen des englischen Chiliasmus eine Rolle spielten, sei vermerkt. Als ein wichtiger Vermittler gilt der mit dem Frankfurter Advocaten und Haupt der Separierten Johann Jakob Schütz (1640-1690) befreundete Kabbalist Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689), Jurist am Hofe des zum Katholizismus konvertierten Pfalzgrafen Christian August von Pfalz-Sulzbach, der an Theosophie, Kabbala und Alchimie sehr interessiert war. Das Oberhaupt des damaligen Frankfurter separatistischen Pietismus („Saalhofpietisten“) war wiederum mit dem Tübinger Kirchenmann und Rosenkreuzer, Hermetiker und Gnostiker Johann Valentin Andreae verwandt, auf dessen literarische Qualitäten Herder und Goethe aufmerksam geworden sind. – Schon zu Speners Zeit führten in Frankfurt die Faszination mystisch-spiritualistischer Kirchenkritik und Eindrücke eines philadelphischen separatistischen Gemeindeideals, wie sie die Begegnung mit William Penn und Jean de Labadie vermittelte, zur wachsenden Distanzierung kleiner Gruppen von der Landeskirche. Die Kritik an der volkskirchlichen Abendmahlspraxis schritt weiter zur Kritik an der Abendmahls- und Rechtfertigungslehre bis hin zur Bestreitung bzw. Neuinterpretation der Göttlichkeit Jesu‘ und zur Leugnung der Trinitätslehre. Wenn auch die Erforschung der Geschichte der Frankfurter Separierten hoch Lücken aufweist: Auch nach Speners Weggang bestanden dort separatistische Gruppen fort. Auch Offenbach/Main war eine wichtige Drehscheibe: Die Offenbacher Hofdruckerei des Hugenotten Bonaventura de Launoy war die erste Druckerei in Deutschland, die in erheblichem Umfang radikalpietistische Literatur auf den Markt brachte. Kurz: Das „Andere Frankfurt“ und hier vor allem auch der radikale Pietismus sind keineswegs nur Randerscheinungen der Frankfurter Religionsgeschichte!

Nachwirkungen Gottfried Arnolds bei Goethe

(1) In Goethes Deutung der geschichtlichen Phänomene wirken auch Kategorien einer ursprünglich theologischen Geschichtsdeutung nach, näherhin die des durch Gottfried Arnolds (1666-1714) „Unparteiische Kirchen-und Ketzerhistorie (Frankfurt/M. 1699/1700) repräsentierten Geschichtsauffassung des radikalen Pietismus. Der junge Goethe hat dieses Werk eifrig studiert. Er hat Arnolds Deutungsprinzipien der Kirchengeschichte aber auch auf die Geschichte der Religionen schlechthin ausgeweitet. Es ist vor allem ein Verdienst Peter Meinholds [18], die wechselseitige Beziehung zwischen der Interpretation der Kirchengeschichte und der Deutung der Religionsgeschichte bei Goethe hervorgehoben und „als einen Wesenszug seines Denkens, als eine charakteristische Seite seiner Weltschau, ja als die direkte Ansprache des Glaubens selbst“ interpretiert zu haben [19].

(2) Das neue methodische Programm des 1697 in Gießen lehrenden Professors für Geschichte Gottfried Arnold signalisiert der aus der Tradition des kirchenkritischen Spiritualismus stammende Schlüssel „unparteiisch“, der gerade nicht historische Objektivität, sondern als Ausdruck einer höchst parteilichen Kirchenkritik einen Standort jenseits der großen christlichen Konfessionskirchen meint, mithin den unkirchlichen mystischen Spiritualismus zum Beurteilungsmaßstab der Kirchen und deren Geschichte macht. Arnold veruteilt zwar jede Verketzerung aber er nimmt nicht einfach -was oft übersehen wird- für die Ketzer Partei, weil er z.B. auch in pietistischen Konventikeln Spuren des Verfalls findet. Die wahren Christen sind für Arnold die ein asketisches, von der Welt abgezogenes Leben führenden Einsiedler und Mönche, die „Stillen im Lande“ (Psalm 35, 10), die die Kontinuität der wahren Kirche darstellen.

(3) Mit dieser Geschichtskonstruktion des mystischen Spiritualismus bleibt Arnolds von einer Verfallsgeschichte geprägtes Geschichtsbild zunächst noch protestantisch, insofern es den Verlauf der Kirchengeschichte nicht als Geschichte der Kontinuität mit den Anfängen sondern als Geschichte des Abfalls und Verfalls darstellt. Konzentrierte sich die protestantische Verfallgeschichte (vgl. die Magdeburger Zenturien des Matthias Flacius) aber auf das Aufkommen und die Machtentfaltung des Papsttums, so bezieht Arnold ausdrücklich auch die protestantischen Konfessionskirchen in den Verfall ein. Der junge Goethe geht nun, wie gesagt, noch über Arnold hinaus, indem er die Verfallstheorie auf die Geschichte der Religionen überhaupt anwendet. Damit ist ein Doppeltes gegeben. „Einmal die Relativierung des Wahrheitsanspruches aller Religionen, sodann der Gedanke, daß alle positiven Religionen nur der verschiedenartig bedingte Ausdruck des einen, im Grunde stets gleichen religiösen Gefühls als der letzten, im Subjektiven verankerten Realität sind“[20]. Am Pietismus hat Goethe mehr die entschiedene Subjektivität als der Glaubensinhalt beeindruckt. – Die Übernahme von Arnolds Verfallstheorie bringt Goethe auch in einen Gegensatz zu den Fortschrittsideen der Aufklärung und zur zeitgenössischen Frömmigkeit und Theologie. Die wahre Religion ist für Goethe nicht mit der „natürlichen Religion“ im Sinne der englischen Deisten und der Aufklärungsphilosophie identisch; sie erhebt sich aber auch -so der spätere Goethe- über die drei auf Ehrfurcht beruhenden Religionsformen. „Sie stellt eine höhere Einheit dar, in der diese ‚aufgehoben‘ sind. Der wahren Religion entspricht die Erhebung des Menschen zu vollem, reinem Menschentum, an der die positiven Religionen insgesamt mitarbeiten“[21], wobei die drei sich auf die Ehrfurcht gründenden Religionen den drei Personen der Trinität zugeordnet werden.

(4) Die Wirkungsgeschichte Arnolds reicht bekanntlich über Goethe und Herder bis hin zu Nietzsche und Albert Schweitzer. Was bei diesem Rezeptionsvorgang allerdings zu kurz kommt, ist der Kontext der nahen Enderwartung, in dem Arnolds Werk steht, das dem Leser die Zeichen der Endzeit vor Augen führen will. Der Verzicht auf den eschatologischen Kontext ermäßigt Arnolds Ansatz auf Religions- und Institutionenkritik verschiedenster Couleur!

Zum Bibelverständnis des jungen Goethe

(1) Goethe hat durch häuslichen Unterricht und Religionsunterricht eine gründliche Bibelkenntnis erworben; er war, wie nicht wenige seiner Zeitgenossen, „bibelfest“. Trotz aller kritischen Vorbehalte gegen Kirche und Christentum verehrte er zeitlebens die Bibel und wandte sich auch gegen die nationalistische Bibelkritik in England, Frankreich und Deutschland. – Goethes intensives Verhältnis zur biblischen Tradition [22] ist zunächst darin begründet, daß Religion, Kirche und Bibel in der damaligen Erziehung wie im öffentlichen und privaten Leben eine gewichtige Rolle spielten. Bereits als Kind war ihm „die große Foliobibel mit Kupfern von Merian“ wohl vertraut. Vor allem das Alte Testament diente ihm als Lesebuch; auch das Fremdartige, die leibhafte Erinnerung an die Welt der Patriarchen reizten ihn. Goethe berichtet, er habe die Bibel, „wie es bei dem Religionsunterricht der Protestanten geschieht, mehrmals durchlaufen“, ja sich „mit derselben sprungweise, von vorn nach hinten und umgekehrt, bekanntgemacht“. Hinzu kommt, daß das 18. Jahrhundert die entscheidende Formationszeit für das historisch-kritische Bibelverständnis war. In diese Zeit fallen auch das durch Orientreisen zunehmende Interesse an der Orientalistik und neue Ansätze zu einem sachgemäßen Verständnis der hebräischen Dichtkunst. Wichtig war auch Goethes privater Hebräischunterricht beim damaligen Frankfurter Gymnasialrektor Dr. Johann Georg Albrecht. Ob das Erlernen des Hebräischen und des „Judendeutsch“ eher kultur- und bildungsmäßig und theologisch motiviert war, oder ob hier auch eine Begegnung bzw. Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Judentum eine Rolle spielte, muß ich -bei Vermutung des ersteren- offenlassen.

(2) Goethes Interesse an der Bibel wird in germanistischer Hinsicht vor allem als kulturell bedingt angesehen. Ihm gelte die Bibel „weniger als Medium der Offenbarungsreligion denn als Kulturgut“[23], was als „Säkularisierungsvorgang“ interpretiert wird: „In dem Maße, in dem die Bibel als religiöses Grund-und Hauptbuch ihre autoritative Stellung verlor, stieg ihre Hochschätzung als historisches Dokument einer heiligen Menschheits-Frühe, ja als poetisches Meisterwerk. Sie wurde zu einem Kulturgut schlechthin, aber religionsgeschichtlich vergleichbar mit den heiligen Büchern der Hochreligionen“[24]. Hanna Fischer-Lamberg [25] unterscheidet in der Verwendung des Bibelzitats bei Goethe drei Stufen: In der Frühzeit überwiege die Lust am Rhetorischen, die formale Komponente; in der pietistischen Epoche stehe die religiöse Komponente im Vordergrund. Im Sturm und Drang mit seiner Ausbildung einer neuen Religiosität unter dem Einfluß der Genielehre komme es zu einer Auflösung und Umformung des Bibelzitats. Die germanistische Perspektive bedarf allerdings der Ergänzung!

(3) In theologisch-exegetischer Perspektive herrscht eher ein literarkritisches Interesse in Goethes Bibelverständns vor. In seiner 1773 anonym veröffentlichten Schrift „Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen zum erstenmal gründlich beantwortet, von einem Landgeistlichen in Schwaben. Lindau am Bodensee 1773“ beschäftigte sich Goethe mit der Eigenart der urchristlichen enthusiastischen Prophetie, die heute zwar mit Recht kritisiert, aber dennoch zu wenig beachtet werde, und mit der Frage. „Was stand auf den Tafeln des Bunds?“ Goethes Antwort lautet: „Nicht die zehn Gebote, das erste Stück unseres Katechismus“, sondern eine Reihe von zehn Kultgeboten, die Goethe aus Exodus 34, 10-28 rekonstruiert und die nur für die Hebräer Geltung besitzen. – Goethes interesseleitendes Verständnis ist in beiden Fällen letztlich aber nicht ein literarkritisches oder historisches, sondern ein eminent kirchliches bzw. kirchenrechtliches: Für Goethe behaupten die Kirchen zu Unrecht, daß in Exodus 20 das Bundesgesetz enthalten sei; sie leugneten außerdem das Vorhandensein und den Wert der Geistsprache in der Gegenwart. „Es soll begriffen werden, wie peripher und ‚äußerlich‘ eigentlich doch die Kirchenordnung ist und wie wichtig es ist, über Lehre und Kultus nicht zu vergessen, daß das Leben in der Kirche letztlich vom unwägbar Spirituellen aus gefördert und getragen wird“[26]. Es geht Goethe also darum, sein individuelles Christentum zu pointieren. – Auf der anderen Seite lehnt Goethe –bei aller Bestreitung einer prinzipiellen Sündhaftigkeit des Menschen und der Funktion Jesu Christi als Erlöser- die religionskritischen Positionen z.B. von Johann Konrad Dippel, Johann Christian Edelmann und Carl Friedrich Bahrdt und vor allem der französischen Aufklärung (Holbach, Helvetius, Voltaire, die Enzyklopädisten) ab, ebenso einen deistischen Verzicht auf jede Offenbarungsreligion und ihren Ersatz durch eine allen Menschen gemeinsame „natürliche Religion“.

(4) Goethes Bibelverständnis läßt sich aber auch im Kontext des Toleranzthemas bearbeiten! Wichtig ist in diesem Zusammenhang Goethes anonym erschienener „Brief des Pastors zu*** an den neuen Pastor zu***. Aus dem Französischen. 1773″[27]. Sein fiktiver Landpastor erläßt ein Toleranzedikt, das sich auf das evangelische Liebesgebot, Luthers sola fide, auf das allgemeine Priestertum und auf die Gnadenwahl beruft und letztlich Goethes Verwurzelung in der theologischen Tradition zeigt. Für ihn erfordert die Toleranz, die auch religiöse Individualität erkennen und gelten läßt, ein entsprechendes Verhältnis zur Bibel, das gleichermaßen weit entfernt ist von einer rationalistischen Bibelkritik und von einem einseitig am Dogma der Inspiration orientierten Schriftverständnis.

Zur Gottesvorstellung des jungen Goethe

(1) Auch im Blick auf die Gottesfrage ist Goethes Argumentationsweise nicht die eines systembildenden Dogmatikers; er hat immer aufs neue verschiedene Gedanken aufgenommen und bewegt [28]. Auch war Goethe „immer in erster Linie Dichter und Naturforscher, nicht Philosoph oder Theologe. Seine ästhetisch-sensitive Veranlagung zieht symbolische Aussage begrifflicher Fixierung vor“[29]. Helmut Thielicke [30] versucht, das Widersprüchliche von Goethes pan-, poly- und monotheistischen Aussagen in der Hauptsache als „bloße Verschiedenheit der Perspektiven“ zu interpretieren, wobei er allerdings, vor allem durch sein Selbstverständnis als Naturforscher bedingt, „die panentheistische Perspektive als die eigentliche Dominante“ verstanden habe. Die Arbeiten z.B. von Martin Bollacher [31] und Hermann Timm [32] zeigen eine im Kontext einer allgemeinen Spinoza-Renaissance liegende spinozistische Orientierung des jungen Goethe auf. Spinoza, wie richtig oder subjektiv-angeeignet man ihn auch verstand, wird hier eher zu einer Metapher einer Natur-Religiosität als Distanzierungshilfe vom christlichen Glauben [33]. Dies weist zurück auf Herbert Schöfflers Werther-Studie von 1938 [34], derzufolge die „Leiden des jungen Werther“ „der erste deutsche Leidensbericht mit pantheisierender Gottesidee“ sei, die Goethe bei Ossian, Giordano Bruno und Spinoza um 1770 gefunden habe. Inzwischen hat Rolf Zimmermann [35] vor einer Fixierung Goethes auf einen „summus philosophus“ gewarnt, weil dies weder dem „eklektischen und synkretistischen“ 18. Jahrhundert noch dem Denken des jungen Goethe entspreche. Bei aller Abwendung von der Kirche habe er um so stärker „an einem Göttlichen“ festgehalten; er habe in einer Epoche gelebt, „die in der Allnatur dieses Göttliche manifestiert und es von den aktuellen Fortschritten der Naturwissenschaften mehr und mehr geoffenbart sah“. Das Gottesbild des jungen Goethe wird hier als Konzeption eines mystisch-eklektisch erfahrenen Gottes in der Natur beschrieben [36], wobei die hermetische Tradition wichtig sei. Gerhard Sauder resümiert [37]: „So ergeben sich zwei markante Positionen der neueren Beurteilung von Goethes religiösem Denken bis 1775: auf der einen Seite die Entfernung von einem christlichen Gott und von aller Kirchlichkeit zugunsten der Adaption des ‚emanativen Systems‘ der Hermetik, schließilich der Übergang zu Spinoza – auf der anderen Seite die gleichzeitige Distanzierung von der Kirche und die Qualifizierung der Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte“. Sauder betont allerdings, daß sich Hermetik und Spinozismus bei Goethe nicht ausschließen, sondern überlagern [38]. Er empfiehlt auch, Zimmermanns These von der „angeblich hermetischen Prägung der poetischen Theorie des jungen Goethe bis über die Mitte der 70er Jahre“ zu überprüfen. – Ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Zimmermann geht davon aus daß sich die von ihm als „Eklektizismus“ und „Synkretismus“ bezeichnete religiöse Popularphilosophie mit ihrem antimaterialistischen Gesamtkonzept der Naturdinge vor und neben der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus entfaltet habe [39]. Demgegenüber habe ich darauf hingewiesen, daß gerade der radikale Pietismus, wie er sich auch in Frankfurt nachweisen läßt, ein wichtiger sozialer Träger und Vermittler der Ideen wie Alchimie, Hermetik, Kabbala und Mystik usw. war. Diese konkret vermittelten Einflüsse auf Goethe lassen sich wohl kaum auf eine bestimmte Lebensphase, erst recht nicht auf eine bestimmte religiöse Phase Goethes einschränken. – Endlich sollte auch der Metaphercharakter des Spinozismusarguments stärker in Blick genommen werden. Nicht nur, daß in neuerer Zeit z.B. Pierre Teilhard de Chardin, Erich Przywara, Paul Tillich, Jürgen Moltmann u.a. das Verhältnis von trinitarischem Gottesglauben und „Pantheismus“ in einem neuen Licht sehen, das Vermittlungen zuläßt. Schon Goethes Zeitgenosse Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) hat, um eine Synthese von Pantheismus und Theismus zu schaffen, seine „All-in-Gott-Lehre“ entwickelt und dafür den Begriff „Pan-en-theis-mus“ geprägt [40]. So ganz unbekannt waren diese Dinge Goethe wohl nicht [41].

(2) In der verlorengegangenen Straßburger Dissertation über ein kirchenrechtliches Thema (1771) [42] unterschied Goethe zwischen-staats politisch notwendiger Allgemeinheit des Kultus und privatem Glauben , auf den die Kirche keinen Einfluß nehmen dürfe, zwischen öffentlicher und privater Religion. Zu jener gehöre die Kirche mit ihrer Lehrsätzen, zu dieser die innerste, von den kirchlichen Lehrsätzen unabhängige Überzeugung des Einzelnen, ein Gegensatz, den Goethe in allen Religionen wiederfindet. Nach Gerhard Sauder [43] lernte Goethe diese „Grundpositionen eines naturmystischen Orientierungsmodells“ auch durch die Vermittlung Susanna von Klettenbergs aus der Hermetik kennen: „einen in seiner Schöpfung erfaßbaren Gott aus Kosmos und Geist, die Polarität der Lebensenergie, die immer wieder neue Gestalt annimmt, den Wunsch nach einer umgreifenden Orientierung. Die zentralen Konzepte der ‚Individualität‘ und ‚Analogie‘ sind, aus dem hermetischen Zusammenhang entwachsen, in Goethes Weltdeutung eingegangen. Die von ihm selbst als ‚eigene Religion‘ bezeichnete und in ‚Dichtung und Wahrheit‘ skizzierte ‚Privatreligion‘ hat hier ihre Wurzeln“. So ganz „privat“ (im heutigen Sinne) war Goethes „Privatreligion“ aber nicht! Die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religion geht auf den Hallenser Theologen Johann Salomo Semler zurück, auf seine Unterscheidung von zwei Klassen von Christen in der Kirche. Die noch unselbständige Klasse fand ihre Erfüllung in der „historischen Religion“, in den sinnlich-gegenständlichen Wahrheiten, während die Christen höherer Ordnung in der „moralischen Religion“ lebten, waren sie doch befähigt, die religiösen Bilderwelten in ihrem geistigen Kern zu erfassen und eigenständig mit ihnen umzugehen. Semlers Unterscheidung verstand sich als Trennung des Öffentlichen und des Privaten in der Religion; diese Unterscheidung des in der Religion öffentlich Geltenden und des Pluralismus der (privaten) religiösen Überzeugung war von ihm gerade nicht als eine private Maxime, sondern als ein staats- und kirchenloyaler Kompromiß gedacht. Bei Goethe wird deutlich: „Indem der Begriff Religion auf anspruchsvolle Weise unscharf wurde, wurde er nach vielen Seiten leistungsfähig, hatte vieles und einander Widerstreitendes unter dem Dach der Religion Platz“[44]. Darum war gerade die Religionsfrage ein wichtiges Paradigma für den öffentlichen und privaten Diskurs über die Individualität. – Kurz: Im Blick auf den diffizilen religiösen Weg des jungen Goethe sollte eher von Transformationen und von Perspektivenwechsel als von Ablösungen und Abbrüchen gesprochen werden. Eine geschichtslose „Bastelreligion“ hat er gerade nicht vertreten, wenngleich die Abschlußszene des ersten Buches von „Dichtung und Wahrheit“ in diese Richtung zeigen könnte: Hier setzt das Kind Johann Wolfgang seine Gottesverehrung, die weder aufklärerisch-moralisch noch pietistisch ausfällt, in antike Kultform und rituelle Praxis um: Dem „großen Gott der Natur, dem Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden“ wird ein prachtvoller Altar gebaut und mit Hilfe einer Räucherkerze und bei aufgehender Sonne ein feierliches Opfer dargebracht. „Daß aber diese priesterliche Übung in der Peinlichkeit von Brandspuren auf den zweckentfremdeten elterlichen Möbeln ihr Ende findet, zeigt zuletzt, daß auch das religiös-natürliche Urverhältnis nicht mehr im Handstreich zurückerobert werden kann“[45].

Anmerkungen

1] F. Götting, Art. : Goethe, in: RGG 3 II, Tübingen 1958, 1668. -W. Wiethölter, „Doktor was halten Sie von Goethe?“ Zur Geschichte einer deutschen Kultfigur, in: Forschung Frankfurt 2/1999, 70-75. -W. Leppmann, Goethe und die Deutschen. Der Nachruhm eines Dichters im Wandel der Zeit und der Weltanschaungen, Berlin 1998. – K. R. Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. I/II, München 1980/89.

2] M. Luserke, Der junge Goethe: „Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe“, Göttingen 1999, 14.

3] P. Pfaff, Art. : Goethe, in: TRE XIII, Berlin 1984, 556.

4] G. Sauder, Der junge Goethe und das religiöse Denken des 18. Jahrhunderts, in: Goethe-Jahrbuch 112, 1995, 97-110; hier 110.

5] H. Dechent, Ein Tag zu Frankfurt aus Goethes Jugendzeit, in H. Dechent, Ich sah sie noch, die alte Zeit. Beiträge zur Frankfurter Kirchengeschichte, hg. von J. Telschow (Schriftenreihe des Ev. Regionalverbandes Frankfurt a. M. Nr. 11), Frankfurt/M. 1985, 128-138. – Vgl. auch H. Dechent, Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, Bd. II, Leipzig/Frankfurt, a. M. 1921.

6] G. Sauder, a.a.O. 100f.

7] Vgl. W. Klötzer, Das Willfahrungsdekret für die reformierten Kirchen vom 15. November 1787, Frankfurt/M. 1987. Einige Lehrer Goethes waren reformierter Konfession.

8] W. Klötzer, a.a.0. 10.

9] Die Frankfurter Dörfer hatten je eine eigene lutherische Kirchengemeinde.

10] Vgl. H. Dechent, Die Seelsorger der Goetheschen Familie, in: Goethe-Jahrbuch 111, 1890, 159-164.

11] Vgl. K. Dienst, Zur Geschichte der Beichte in Frankfurt am Main, in: Chr. Führ/J. Telschow (Hg. ), Die evangelische Kirche von Frankfurt am Main in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M. 1978, 33-42. – Ders. , Zur Geschichte der Konfirmation in Frankfurt am Main, in: ebd. 43-57.

12] E. Kleinstück, Geist und Kirche in Frankfurt von der Aufklärung und Erweckung bis zum Historismus (1750-1850), in: JHKGV 12, 1961, 35-69; hier 39.

13] Vgl. J. Wallmann, Der Pietismus‘ (KIG Bd. 4, Lieferung 0 1) Göttingen 1990, 80-108. -H. Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, in: M. Brecht u.a. (Hg. ), Geschichte des Pietismus Bd. 1: Der Pietismus vom 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert, hg. von M. trecht, Göttingen 1993, 391-437. -Ders., Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: ebd. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, hg. von M. Brecht und K. Deppermann, Göttingen 1995, 107-197.

14] Vgl. H. Schneider (1993), a.a.0. 397f.

15] Vgl. H. Dechent, Ein Tag, a.a.0. 137.

16] E. Kleinstück, a.a.0. 39.

17] Vgl. H. Schneider (1993), a.a.0. 419.

18] P. Meinhold, Der junge Goethe und die Geschichte des Christentums, in: Saeculum 1 (1950), 196-227. -Ders., Goethe zur Geschichte des Christentums, Freiburg/München 1958. -R. Brinkmann, Goethes „Werther und Gottfried Arnolds „Kirchen-und Ketzerhistorie“, in: Versuche zu Goethe, FS E. Heller, Heidelberg 1976, 167-189. -A. Schöne, Goethes Farbentheologie, München 1987, 45-62.

19] P. Meinhold (1958), a.a.O. VI.

20] P. Meinhold (1958. ) a.a.0. 120. -Vgl. R. H. Grützmacher, „Die Religionen in der Anschauung Goethes, Baden-Baden 1950. -G. Niggl, „Fromm“ bei Goethe. Eine Wortmonographie, Tübingen 1967. – H. Kunisch, Goethes Frömmigkeit, in: Ders. , Goethe-Studien, Berlin 1991, 84-130. -Vgl. ferner: J. Graefe, Die Religion in den „Leiden des jungen Werther“, in: Goethe Jahrbuch N.F. 20, 1958, 72-98. -H. Zabel, Goethes „Werther“ – eine weltliche Passionsgeschichte?, in: ZRGG XXIV, 1972, 57-69.

21] P. Meinhold (1958), a.a.0. 161.

22] Vgl. K. Galling, Goethe als theologischer Schriftsteller, in. EvTh 8, 1948/49, 529-545. -W. Schottroff, Goethe als Bibelwissenschaftler, in: EvTh 44, 1984, 463-485.

23] S. Hubach, Goethe liest die Bibel – mit Folgen: Die Leiden des jungen Werther, in: R. Ziegert (Hg.), Die Zukunft des Schriftprinzips (Bibel im Gespräch 2), Stuttgart 1994, 59-74; hier 59.

24] S. Hubach, a.a.0. 60.

25] Hanna Fischer-Lamberg, Das Bibelzitat beim jungen Goethe, in: K. Bischoff (Hg.), Gedenkschrift für Ferdinand Josef Schneider (1879-1954), Weimar 1956, 201-221.

26] K. Galling, a.a.0. 533.

27] M. Luserke, a.a.0. 94. Auch dieser Text Goethes durfte ein Rollenspiel sein; Goethe spricht durch die Figur des Pastors, er ist sie aber wohl nicht.

28] Hier liegt übrigens auch eine Parallele zu Lessing vor: Vgl. V. Leppin, Das Theater als Kanzel, in: ZThK 96, 1999, 77-93.

29] F. Götting, a.a.0. 1668.

30] H. Thielicke, Goethe und das Christentum, München/Zürich 1982, 97ff.

31] M. Bollacher, Der junge Goethe und Spinoza, Tübingen 1969.

32] H. Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinozarenaissance (SPLNJ; Bd. 22), Frankfurt/M. 1974. -Vgl. auch H. Lindner, Das Problem des Spinozismus im Schaffen Goethes und Herders (Beiträge zur deutschen Klassik; Bd. 11), Weimar 1960

33] Vgl. S. Hubach, a.a.0. 60.

34] H. Schöffler, Die Leiden des jungen Werther. Ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund (1938), in: Ders., Deutscher Geist im 18.Jahrhundert. Essays zur Geistes-. und Religionsgeschichte-, hg. von Götz von Selle, Göttingen 1956, 155-181; 310-312; hier 181.-Vgl. auch P. Zimmermann (Hg.), Goethes Briefe an E. Th. Langer, Wolfenbüttel 1922.

35] R. Chr. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18.Jahrhunderts, Bd. 1: Elemente und Fundamente, München 1969; Bd. 2: Interpretation und Dokumentation, München 1979.

36] R. Chr. Zimmermann (1979), a.a.0. 13.

37] G. Sauder, a.a.0. 99f.

38] G. Sauder, a.a.0. 100, 109f.

39] Vgl. G. Sauder, a.a.0. 98.

40] Vgl. G. Schiwy, „Pan-en-theismus“ – eine Spurensuche, in: Von der Suche nach Gott. FS H. Riedlinger zum 75. Geb. Hg. von M. Schmidt und F. Dominguez Reboiras (MyGG; Bd., 15) Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 731-753.

41] Vgl. G. Schiwy, a.a.0. 743.

42] E. Genton (Hg.), Goethes Straßburger Promotion, Basel 1971.

43] G.Sauder, a.a.0. 101f. Wohl erst nachträglich darauf aufmerksam gemacht weist Sauder auf S. 102 Anm. 21 auf Johann Salomo Semler hin. Vgl. K. Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland, München 1995, 16ff.

44] K. Nowak, a.a.O. 17.

45] H. Deuser, Inkarnation und Repräsentation, in: THLZ 124, 1999, 355ff.; hier 355.

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