Nr. 29 (1999)

Die Kindheit des Heiligen

Nr. 29 (1999)

Von Edmund Weber
  1. Das Jesuskind im Christentum und Islam

Vielen Religionen ist es selbstverständlich, daß Gottheiten und heilige Wesen Mensch werden und eine Kindheit haben. Den christlichen Religionen orthodoxen Zuschnitts ist die Inkarnation Gottes sogar das Herzstück von Lehre, Ritual und Frömmigkeit. Die Gründe für die Menschwerdung Gottes sind dabei vielfältig: Gott wurde Fleisch, um die Menschheit aus der Gefangenschaft der Sünde loszukaufen oder aber um die Freuden der irdischen Armut zu genießen. Dabei wurde und wird stets

davon ausgegangen, daß Gott als Kind geboren wurde, von einer irdischen Mutter, wenn auch nicht von einem irdischen Vater gezeugt. Es wird vorausgesetzt, daß Jesus als Sohn Gottes auf Erden eine Kindheit verlebte. Allerdings berichtet das Neue Testament nur von seiner Geburt, seiner Darstellung im Tempel, seiner Flucht nach Ägypten und seiner Belehrung der Schriftgelehrten im Tempel. Die Evangelien, die ausführlicher über die Kindheit Jesu berichten, die Kindheitsevangelien, wurden von der siegreichen Kirche nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen. Die Kindheit Gottes wurde zwar nie bestritten; aber sie hatte keinen oder nur geringen erlösenden Wert. Die Kindlichkeit des Kindes, seine Unberechenbarkeit, war den gesetzlichen Christen, die schließlich das Neue Testament zusammenstellten, unerträglich. – Im Islam, so ist bekannt, wird die Inkarnationslehre dogmatisch zwar verworfen, dennoch sollte bedacht werden, daß Jesus gleich Adam nicht von einem menschlichen Vater gezeugt, sondern durch das Wort Gottes selbst geschaffen wurde. Die herkömmlichen sowohl altarabischen als auch christlichen Vorstellungen und Erfahrungen, daß Allah Töchter oder Gott einen Sohn habe, wirkten offenbar so stark nach, daß, obwohl bis heute von der orthodox-sunnitischen Dogmatik entschieden bestritten wird, daß Gott Kinder zeuge oder Mensch werde, Jesu besondere göttliche Erschaffung dennoch behauptet wird [0]. Vergessen wir nicht, daß der Islam daher auch an der jungfräulichen Geburt Jesu durch Maria, Miriyam, strikt festhält! – Dies sind Auszeichnungen Jesu, derer Mohammed nicht teilhaftig wurde. Die Kindheitsgeschichten Isas werden im Islam ausdrücklich festgehalten. Ausführlich wird im Koran und in der islamischen Überlieferung die Kindwerdung Isas beschrieben. Als Kind in der Wiege weist Jesus nach dem Koran Zweifler an seiner Sprachfähigkeit zurecht [1]. Kisai erzählt in seinen ‚Geschichten der Propheten‘ von einer Episode des Knaben Jesus, der in Ägypten einen beim gemeinsamen Spiel zu Tode gekommenen Spielkameraden zum Leben erweckte [2]. Aber das Jesuskind demonstrierte nicht nur seine heilige Wundermacht, sondern offenbarte mit ihr zugleich auch sein religiöses Selbst- und Sendungsbewußtsein, daß er das Bekenntnis zu ihm als Gesandten Allahs ist und dessen Gottheit einfordert und darin den Sinn der Wundertaten sieht. Dies wird besonders deutlich in der Geschichte vom jüdischen Färber. Seine Mutter Maria machte sich Sorgen um das künftige materielle Wohlergehen ihres heranwachsenden Sohnes: „Kind“, sagte sie daher eines Tages, „komm‘ mit mir; ich will dich zu einem Färber bringen, damit du einen Beruf lernst, mit dem du etwas verdienen kannst.“ Der Färber nahm den Jesusknaben als neuen Lehrling an und erteilte ihm sogleich den Auftrag, die daliegenden Kleider zu färben, vergaß jedoch zu sagen, in welcher Farbe. So färbte denn Jesus die Kleider nach seinem Geschmack. Das Ergebnis war für den Färber katastrophal: „Junge“, sprach der Meister, „du hast mich ruiniert und hast die Kleider der Leute verdorben.“ Jesus beruhigte seinen Meister, indem er ihm sagte, er könne die Kleider in der Farbe aus dem Farbbottich herausziehen, die er sich wünsche; wenn er nur zuerst bekenne, daß es nur einen Gott gebe und er, Jesus, dessen Gesandter sei. Der jüdische Färber sprach die islamische Variante des Gottes- und Jesusbekenntnisses, konvertierte also zum muslimischen Jesusanhänger, und konnte alsdann jedes Kleidungsstück in der von ihm gewünschten Weise gefärbt aus dem Bottich herausziehen [3]. – Im traditionellen Christentum und gerade auch im Islam wird das Heilige gerade also nicht auf das Erwachsensein fixiert, sondern Kindheit als wesentliche Qualität des Sakralen angesehen und erlebt. – In den östlichen indogenen Religionen wird die Kindwerdung des Heiligen als selbstverständliches Wesenselement betrachtet und infolgedessen in den heiligen Erzählungen breit dargestellt. Kein Wunder, daß z.B. in der tamilischen Dichtung sogar eine eigene poetische Gattung, die sich allein mit der Verehrung des kindlichen Gottes befaßt, entwickelt wurde. Daß aber Kindheit als Charakteristikum des Heiligen überall und nicht nur in den Hindu Religionen wahrgenommen wird, beweisen diese Lieder, wenn sie nicht nur Hindu Gottheiten wie Murukan, Minakshi und Amutampikai, sondern auch Mohammed und Jesus preisen [4].

  1. Der kindliche Buddha

Der in Indien entstandene Buddhismus gehört nicht minder zu den Religionen, in denen das oder der Heilige Menschengestalt annimmt und seine Kraft als Kind entwickelt. Diese buddhistische Tradition, die von der kindlichen Inkarnation Buddhas erzählt, hat besonders im Sanskrit Sutra Lalita-vistara [5] ihren Niederschlag gefunden. Es handelt sich hierbei um eine höchst populäre poetische Beschreibung des Lebens Buddhas. Der Lalita-vistara ist aber auch deshalb für unser Thema besonders relevant, weil er – wie schon der Titel sagt – die Taten des Buddha als Lilas, d.h. Spiele erzählt. Spiele aber sind Handlungen, die irdischen Kindern und himmlischen Göttern gemeinsam sind. Deshalb kann sich ein göttliches Wesen, wenn es eine irdische Existenz annimmt, auch nur im Spiele äußern. Nach dem Lalita-vistara (, den u.a. Ernst Waldschmidt in seiner Anthologie über die Buddhalilas wiedergegeben hat [6],) lebte der Bodhisattva im Tushita-Himmel der Götter.“ Hunderttausende von Göttern priesen ihn …“[7] dort, denn er war infolge seiner unendlichen Verdienste in früheren Existenzen so hoch gestiegen, daß ihm „das Verständnis der Lehren aller Buddhas aufgegangen war, und er das reine Auge der Erkenntnis gewonnen“ hatte [8]. Die Götter rieten ihm daher: „Vieltugendsammler, gedenk … der Worte der Buddhas der Vorzeit! …. Hinab nun steige, du weißt wie es geschehen soll, Vernichter von Alter, Tod und Sünden! Auf zu dir blicken, o Sündenloser, zahlreiche Götter, Dämonen und Schlangen, auch der Genien und Elfen Scharen! “ … Derart forderten mannigfache, aus dem Klang der Gesänge und Instrumente ertönende Strophen den Erbarmer auf: Die Zeit ist gekommen, säume nicht länger!“[9] Buddha beugte sich dem Drängen der Götter und erklärte ihnen, wann und wo er auf Erden sich inkarnieren werde. Gleich allen Bodhisattvas könne er weder in einer Pariakaste noch in einer Mischkaste, sondern nur in einer Kaste der Brahmanen oder der Krieger geboren werden [10]. Und weil nach Ansicht der Götter und Bodhisattvas, zu ihrer Zeit die Kriegerkaste den höchsten gesellschaftlichen Rang innehatte, werde er im Kshatriyastamm der Sakhya Geburt nehmen. Als Buddha den Himmel verließ, trauerten die Götter; er aber legte Stirnbinde und Diadem ab, reichte beide Würdezeichen dem Bodhisattva Maitreya, daß er nun die Götter unterrichte [11]. Viele Götter beschlossen aber, Buddha auf die Erde zu folgen. Die Göttermädchen, welche im Reiche der Sinnenlust herrschen, lobpriesen die künftige Mutter des herabsteigenden Buddha: „Der Liebesgöttin gleicht sie und ist mit hervorragenden Eigenschaften ausgezeichnet, diese Mutter des besten der Männer! Es wird sein, wie wenn eine kostbare Perle in einem schönen Kästchen ruht, sobald die Königin das Gefäß für den Gott der Götter (,d.h. Buddhas) ist“[12]. Hermann Oldenberg vertrat die Ansicht, daß über die Jugendzeit Buddhas nur wenig überliefert sei, und zwar deshalb, weil die buddhistische Gemeinde nicht sosehr am Siddharta, sondern vornehmlich am Buddha, am Erwachten, der den Dharma predigte, interessiert gewesen sei. Die Kindheit des Buddha habe nur prospektiv auf den Buddha gezeigt; sie gehöre aber nicht zur Buddhaschaft selbst [13]. Der Lalita-vistara jedoch, den wir bereits anfänglich zitiert haben, läßt diese von der historischen Kritik und westlicher Biografie bestimmten Sichtweise nicht gelten: er berichtet ausführlich von Kindheitsgeschichten, von den Lilas des übergöttlichen Buddhakinds. Aus gutem Grund: Die Lilas in der Kindheit bewiesen schlagend, daß Buddha, gerade weil er als Kind solch gewaltige Wundertaten vollbrachte, der Gott der Götter, ja ein Übergott sein muß. So berichtet der Lalita-vistara vom ersten Tempelbesuch Buddhas. Der junge Buddha fragte seine Mutter: „Mutter, wohin soll ich geführt werden?“ Die Mutter erwiderte: „In den Tempel der Götter, Kind“[14]. Buddha entgegnete ihr: „Welch anderer Gott könnte mich nun noch überragen, daß du mich heute zu ihm bringst, Mutter? Ich bin der oberste Gott der Götter, bin der höchste von allen. Keiner kommt mir gleich!“[15] Aber der Junge ging mit, um dem Brauche Genüge zu tun, und die Menschen erkennen zu lassen: „Er ist fürwahr ein Gott der Götter!“[16] Diese Allmacht des göttlichen Buddhakindes zeigt sich in der Geschichte von der Milchreisschüssel. Das Buddhakind aß eines Tages übermäßig viel und wollte nicht aufhören. Als seine Amme ihm die Schüssel entreißen wollte, hielt er sie fest. Selbst als ihm der König mit Hilfe von 500 Elephanten die Schüssel entreißen wollte, gelang dies nicht. Das Buddhakind zog nämlich mit nur einem Finger alle Elephanten samt Schüssel zu sich zurück [17]. Seine körperliche Kraft bewies er auch, als er einen Elefanten hoch über die Stadtmauer warf [18] und einen gestürzten Riesenbaum mit Leichtigkeit in die Höhe hob [19]. In der Schule erwies sich das Buddhakind als gelehrter als sein Lehrer Vishvamitra. Dieser konnte über das Wissen seines Schülers nur staunen. Der junge Buddha kannte alle 64 Alphabete [20], gewann die Wettkämpfe im Schreiben [21], Rechnen [22] und Ringen [23]. Auch in der Kriegskunst erwies er sich bald als Meister [24]. Kein Wunder, daß Vishvamitra bekannte: „Er ist der Gott der Götter, der Übergott, der höchste aller Götter“[25]. Bei einem Wettbewerb im Bogenschießen beeindruckte er schließlich alle Welt. Der Lalita-vistara beschließt die entsprechende Erzählung mit den Worten: „Bei diesem Ereignis brachen Hunderttausende von Göttern und Menschen in alle möglichen Laute des Erstaunens aus“[26]. – Der Buddhismus kennt also den kindlichen Gott, ja Übergott, der kindliche Lust und Allmacht voll auslebt und sich dadurch als künftiger Retter erweist. Unmäßige Eßlust, unbegrenzte Intelligenz und gewaltige Körperkraft sind notwendige Eigenschaften eines Bodhisattvakindes. Für die östlichen Buddhisten steht eine solche Buddhapädologie nicht im Widerspruch zum Erleuchtungswesen. Ja, im Lalita-vistara tritt der Erleuchtungsakt hinter die Wundertaten zurück. Erleuchtet war der Bodhisattva längst bevor er auf die Erde kam. Bedeutsam an Buddha waren denn auch seine aktiven, von übergöttlicher Shakti zeugenden Spiele, und die erstaunlichsten und daher größten Buddhaleistungen bestanden in seinen Kinderlilas. Wenn westliche Buddhisten Buddhas Kindheitsgeschichten lieber ignorieren, so tun sie dasselbe, was die siegreiche Christenkirche tat: sie trennen den höchsten der Götter von der infantilen Lust und der dieser dienenden Allmacht und unterwerfen die unbändige kindliche Kraft allein einem repressiven Gesetz, das der Erleuchtung nicht fähig ist. Die Geschichten des lusterfüllten und kraftstrotzenden Buddhakinds haben nur einen Sinn: sie beweisen, daß nur einer, der dieserart lebt, in der Lage ist, das ewige Heil zu bewirken. Die Kindheitsgeschichten Buddhas gleichen den Geschichten vom Kinde Jesu und dem Krishnakind. Alle drei Gestalten des Heiligen beweisen ihre allgewaltige Kraft durch ihre machtvolle Kindheit. – Die Kindergötter haben in der Religionsgeschichte zwar die frommen Massen auf ihrer Seite, nicht jedoch die lustfeindliche adulte Hierarchie. Und dennoch weiß auch die christliche Religion, daß kindliche Lebensweise zum Himmelreich befähigt, d.h. in die Nähe des Göttlichen bringt, daß Kindheit und Gottheit wesensverwandt sind. Die Hierarchen, die das Neue Testament zusammenstellten, haben die Geschichte von Jesu religiöser Hochschätzung der Kinder wohl aus Versehen, vielleicht aus Unverstand oder auf Grund autoritärer Traditionsmechanismen im Kanon belassen.

III. Krishna, der kindliche Gott

Die Vergegenwärtigung des Heiligen im Hindutum

In den Hindu Religionen inkarnieren sich die jeweiligen, meist monotheistischen Gottheiten, heißen ihre Namen nun Shiva, Vishnu oder Devi, ganz selbstverständlich. Am bekanntesten tritt diese Erscheinung in den Avatars hervor: den verschiedenen Herabkünften Vishnus, in denen sich Gott als Tier, Mensch-Tier oder Mensch inkarniert. – Dennoch stellen sie gerade auch in der Hindu Religionswelt nur eine Möglichkeit der Manifestation des Heiligen dar. Das Heilige nimmt ja nicht nur die Gestalt lebender Wesen an, sondern erscheint auch in anderer Weise: als zwei- oder dreidimensionale Bildgestalt, Murti, oder gar in amorpher Form, z.B.als Shalagram-Stein. Aber auch als Klang, Nama (Om, Shivayo, Hare Krishna, Durga MaKali, als geschriebenes Buch wie z.B. der Guru Granth Sahib bei den Sikh, als Schauspieler, Mandali, oder als Traumgesicht und Visionsgestalt tritt es in Erscheinung. Die Materialisation des Heiligen gilt den meisten Hindus nicht im Geringsten als eine Entwertung des Göttlichen. In der indischen Religionswelt wird diese Form der realen Vergegenwärtigung des Göttlichen als Sa-guna bezeichnet. Das Heilige besitzt danach die Fähigkeit, in seinem So-sein sinnlich wahrgenommen zu werden, – unbeschadet seiner Fähigkeit, als Nir-guna, d.h. bar jeglichen Attributs zu existieren. In diese Welt der Sa-guna-Religion, der sinnlich wahrnehmbaren Vergegenwärtigung des Heiligen, gehört nun der Krishna des Braj. Von den Hindu Vaishnavas, d.h. den Liebhabern oder Bhaktas Krishnas wird erzählt und erlebt, daß der Erhabene, Bhagavat, Vishnu, in vielzähligen Avatars, Herabkünften, seinen Ruheplatz im Milchozean, verläßt, um sich der Kreatur vernehmlich zu offenbaren. Am bekanntesten sind die Dashavatars, die Zehn Herabkünfte.

Exkurs: Die Dashavataras

Diese zehn Herabkünfte oder Avatars lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen und gleichsam evolutionär [27] gliedern: 1. Matsya-Fisch, 2. Kurma-Schildkröte, 3. Varaha-Wildschwein; 4. Narasingha, Löwenmensch, 5. Vamana-Zwerg, 6. Kshatriya-Krieger mordender Parashu-Rama mit der Axt; 7. der mondgleiche Ramachandra des Ramayana, 8. Krishna, 9. Buddha; 10. Kalkin auf dem weißen Pferd, der apokalyptische Reiter. Innerhalb dieser Reihung der Avatars finden wir auch Krishna, den Nachfolger Ramachandras und Vorgänger Buddhas. Ramchandra ist der gerechte Herrscher der Welt, der jedes persönliche Bedürfnis, dem weltlichen Dharma oder Gesetz, unterwirft. Buddha dagegen, so sehen ihn jedenfalls die Vaishnavas, die Verehrer des Heiligen unter dem Namen Vishnu, diesem Hindu Buddha geht es um die Wiederherstellung des ewigen Dharmas, der von den Religionsanhängern der altvedischen Opferreligion auf Grund ihrer abscheulichen Tieropfer verdunkelt worden war. Buddha erreichte sein Ziel, indem er diese Tierschlächter zum Atheismus bekehrte; er bestritt nämlich erfolgreich die religiöse Autorität der Veden und brachte auf diese Weise der Vedisten dazu, vom vedischen Tieropfer abzulassen; dadurch, daß er sie zu Ahimsa, zum Nichttöten von Lebenwesen bekehrte, gelangten sie in den Vorhof wahrer Gottesliebe, der Bhakti. Zwischen beiden Dharmafürsten steht Krishna. Im Braj ist er aber kein weltlicher Raja, der mit äußerer Macht dem Dharma der äußeren Welt dient, und auch kein Buddha, der mit Mitleid den Dharma der inneren Welt erschließt. Krishna wird nach der Erfahrung der Brijbhashis dazu geboren, den Zerstörer des Dharmas, den usurpatorischen Weltenherren Kamsa zu töten und dadurch im Braj dem göttlichen Dharma wieder Geltung zu verschaffen, dem äußeren allerdings; dem inneren Dharma, dem die Kühle des Nirvana heilig ist, raubt er dagegen die buddhistische Ruhe, indem er das Hirtenvolk des Braj in seinen alle Ketten des Dharmas sprengenden Bann schlägt.

Die Vision des kindlichen Gottes im Braj

Krishna oder wie er im Braj genannt wird Shyam, der dunkelhäutige und all-attraktive, kommt nicht aus dem Nichts. Seine Herabkunft wird ausgelöst durch die Beschwerde der Mutter Erde, die als Kuh zum Milchozean Vishnus hinaufsteigt, um dem höchsten Herren ihr Leid über die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten Kamsas zu klagen. Dieser hatte als Kronprinz seinen Vater, den Raja von Mathura, der Königsstadt des Braj, durch einen Putsch vom Thron gestoßen, ins Gefängnis geworfen und Menschen und Tiere geschunden und gequält: er war, ohne daß es jemand wußte, ein Bastard, ein Sohn der Königin und eines Asura, eines Götterfeindes. Während Ramchandra, der gerechte König, seine selbstgewählte und heiß umkämpfte Gattin, Sita, um der Geltung des Dharmas willen verstieß, übertrat, ja vernichtete Kamsa, der Dämon, den Dharma: es galt kein Gesetz und kein Gebot, nur seine privaten Wünsche zählten, und die Hybris folgte dem A-dharma, der Gesetzesfeindschaft, auf dem Fuß: Kamsa haßte Gott, Vishnu, verbot seine Religion, verfolgte die Vaishnavas, erklärte sich selbst zum Gott, zur Inkarnation Shivas, des Herrn der Dämonen und machte die Welt zum Spielball seiner unkontrollierten Lüste. Vishnu, der Schöpfer und Erhalter des Dharma, entschloß sich daher, als Erlöser auf die Erde hinabzusteigen, die Geschöpfe von dem Dämon zu befreien und den äußeren Dharma wieder herzustellen; d.h. den vermessenen Weltherrscher in seine Schranken zu weisen. Aber die Brijbhashis wissen noch mehr: Shyam kam und kommt, um als Gleicher mit Seinesgleichen, eben mit ihnen, zu leben. Er beschützt sie vor den Angriffen der Dämonen und verwirrt ihre Herzen. Offenbar war ihm das nur möglich, sofern er die Qualitäten eines Kindes annahm. – Und genau an diesem Punkt tritt der Widerspruch zwischen den Kindheitsreligionen und den reinen Erwachsenenreligionen hervor. Gott, der den Dharma, das Gesetz, nicht zerstört, sondern beschützt, setzt in seinem Verhalten zu den Geschöpfen den Dharma außer Kraft – ohne daß die Geschöpfe der Zerstörung anheim fallen; dies tun sie nur, wenn sie sich selber über den Dharma stellen und ein Spiel ohne den Spielherren treiben wollen. – Die Kindheit des Heiligen ist die intensivste und offenbar gefährlichste Form der Verunsicherung der geschichtsgestaltenden und siegreichen Kulturen, die, um sich durchzusetzen, den Dharma mit Füßen treten, aber auch und gerade für die Religionen, die – umgekehrt – den Dharma zum Gott erheben, die glauben, daß mit Werkgerechtigkeit oder Gesetzesfrömmigkeit die Gottheit gefügig gemacht werden könne bzw. das Leben sich im Dharma erschöpfe. – Sowohl in der christlichen als auch in der indischen Tradition ist der Herr des Gesetzes, Dharmaraj, der Tod. Mittels des Gesetzes will der erwachsene Mensch der Gesetzeskultur Gott kontrollieren: doch gelingt dies nicht: immer wieder bricht Gott als Kind, sei es verdeckt oder offen und direkt, hindurch. – Das göttliche Kind ist als Kind absolut frei, und gerade deshalb zerstört es nicht, sondern löst vom Zwang. Es lebt seine Lust, seine Freude und seinen Schmerz, es ist in seinen Reaktionen diffus und transmoralisch – es bettet den guten Dharma in das Gewebe der freien Gottesliebe.- Die Vision Krishnas im Braj besteht m. E. darin, daß nur durch Kindwerdung und d.h. mit kindlicher Mentalität das Heilige sich dazu befähigen kann, 1. Kamsa, den Dharmafeind, dem alle dharmagläubigen Erwachsenen hilflos ausgeliefert sind, zu vernichten, und 2. die Dharmagläubigen vom Dharmazwang zu befreien. Halten wir fest: Krishna ist nicht nur der Befreier von Gesetzesfeindlichkeit, sondern auch Gesetzesgläubigkeit [28]. Diese doppelte Befreiung vollbringt das Heilige als Kind, d.h. auf Grund kindlicher Unbekümmertheit, die die gegebenen Institutionen, Gewohnheiten und Ideen der von Erwachsenen beherrschten Kultur schamlos und brutal mit Füßen zu treten in der Lage ist. Das hemmungslose Verhalten eines indischen Knaben hat der Psychoanalytiker Sudhir Kakar eindrücklich beschrieben [29]. Damit ist klar, daß die Brijbhashis wissen, daß, wenn Gott Gesetzesfeindlichkeit und Gesetzesgläubigkeit zu Fall bringen und gleichzeitig sie, die Brijbhashis, in seinen Bann schlagen will, er mit der Eigenschaft (saguna) eines Kindes ausgestattet sein muß. Als Erwachsener kann er in ihren Augen dergleichen umstürzlerisches Treiben nicht wagen. Die reale Utopie, schmerzhaft und lustvoll zugleich, ist allein Sache eines kindlichen Gottes. An diesem Punkt, der Kindlichkeit Gottes und der Erlösung der Wesen in die verloren gegangene Kindheit, die der Vergötzung des Dharma und der Zerstörung des Gesetzes nicht bedarf, um zu leben und zu sterben, wovor das orthodoxe Christentum zurückscheute, weil es auf der psycho-physischen Ebene diese Gotteslust nicht ertragen konnte, wiewohl Paulus sie im Evangelium dogmatisch verdeckt dozierte und predigte, er deswegen auch eine Episode blieb, und Luther nicht minder, – an diesem Punkt setzt nun die so gar nicht neurotische Kindheit Krishnas an. Vishnu kam incognito ins Braj; er wurde, weil niemand dort seine wahre Herkunft kannte, einer der Brijbhashis, ein Hirtenkind, ohne Unterschied zu den anderen, den Gopis und Gopas, außer daß er ein Asylant war. Damit konnte er normales Kind sein – und seine Spiele werden nicht müde, die Ambivalenz dieses Kindseins auszuspielen, zum Entsetzen der Kolonialmissionare der moralistischen Repression, die denn auch die Schamlosigkeiten dieses kindlichen Hindugottes, wenn auch vergebens, als agitatorische Waffe benutzten; nur wußten die Brijbhashis, daß Gott die Fähigkeit besitzt, ganz Mensch zu werden, eben auch transmoralisches, von Lust erfülltes und bestimmtes Kind.

Die Spiele des kindlichen Gottes im Braj

Wir hatten bereits gesehen, daß die Taten Buddhas, und damit auch des Buddhakinds, als Lilas, Spiele, verstanden wurden. Die Brijbhashis bezeichnen ebenso die Taten Krishnas als seine Lilas! – Spiele: Alle seine Handlungen sind demnach letztlich frei, keinem Zweck unterworfen, durch keine Ursache außerhalb seines eigenen unmittelbaren Willens hervorgebracht. Eine Lila ist actus purus, reine Handlung, nichts als souveränes, nicht einklagbares Vergnügen Gottes. Die Idee der Freiheit des Heiligen, das nur um nichts, umsonst existieren kann, hat denn auch zur Folge, daß diese seine Freiheit und Ungezwungenheit, seine absolute Spontaneität, von der strengen Befolgung des Gesetzes, des Dharma, durch den Frommen, nicht eingeschränkt werden kann: Dem Menschen bleibt somit nichts anderes übrig, als einzusehen, daß, wenn Gott aufspielt, alles umsonst ist: daß die Existenz bloßes Spiel ist, sich im actus purus, im Erlebnis selbst erschöpft, nichts also denn Spiel ist. Die Lilas Krishnas sind solche freie Verwirklichungen des Heiligen, keinem Gesetz unterworfen noch der Gesetzlosigkeit ausgeliefert. Die Lilas sind nicht vergangene Verwirklichungen des Heiligen, die kodifiziert von hierarchischen Exegeten verwaltet werden, sondern sich stets ereignende Erscheinungen des Heiligen, die nur schwerlich von orthodoxen Amtsträgern kontrolliert werden können. Die Lilas Krishnas werden heute wie eh und je u.a. in den Lilanukaranas auch äußerlich sichtbar und bewegt vergegenwärtigt: durch die Spielergruppen der Mandalis, die auf den Mandalas, Spielgründen, Krishnas Lilas realisieren [30]. Die Lilas werden gerade auch im alltäglichen und festlichen Ritual sowie in der individuellen Imagination des Wachbewußtseins emotionell erlebt. Diese Lilas lassen sich grob so gliedern: Die schrecklichen Lilas, die von den Kämpfen Krishnas mit den Dämonen Kamsas und die reizenden Lilas des Mohan, die von der Anziehung der Hirtenfrauen handeln. Hier erweist sich Krishna als unverschämtes, sei es als zorniges oder als freches Kind, das vernichtet und erregt. In beiden Äußerungen aber bleibt Krishna frei und ungezwungen. Doch gibt es noch andere Lilas: die demütigenden Lilas, wo mächtige Wesen, Götter oder Brahmanen, also Nichtdämonen, spielerisch dem göttlichen Kinde untergeordnet werden, ohne der Vernichtung anheim zu fallen. Und schließlich sei noch die Lila vom alles vergiftenden Flußschlangengott, den Krishna nur auf Bitten der Schlangenfrauen leben läßt, erwähnt. Krishnas Lilas zeichnen sich nun dadurch aus, daß sie relational sind: Das Kind Krishna konzentriert als allanziehendes Wesen alle Welt auf sich, sei es durch Haß, Angst, Lust, Freundschaft oder Sorge. Meditatives Insichkreisen ist Shyam fremd.

Exkurs: Die Bhavas

Die Formen der Beziehungen der Mitspieler Krishnas werden Bhavas genannt: sie erweisen sich – bei Lichte betrachtet – als multireligiöse Ausdrucks- und Erlebnisformen der Krishna-Religion im Braj. Abgesehen von den gleichsam negativen Beziehungen nennt Rupa Goswami, der bedeutendste Krishna-Theologe des 16. Jahrhunderts, fünf positive religiöse Beziehungsmöglichkeiten, die Bon Maharaj näher erläutert [31]. Shanta Bhava meint die passive Beziehung zu Gott; diese Religion pflegen solche Wesen, die Gott gegenüber keine Initiative ergreifen, aber von ihm „out of His own prerogative“ angenommen werden [32]. Im Dasya Bhava verhält sich der Fromme zu Gott wie ein Knecht zu seinem Herren; im Christentum ist dies bislang die normale Form von Religion. Sakhya Bhava ist die Freundschaftsbeziehung. Diese Bhava ist das Privileg der Brijbhashis: sie verehren Gott nicht als Gott, sondern als Sakha, als gleichrangigen „as their Most Intimate friend“ unter Freunden: als einer von ihnen [33]. Wenn Mutter Yashoda sich um ihr Kind wegen der Attacken der Dämonen fürchtet, wenn sie den Kleinen wegen seiner Streiche züchtigt, wenn ihre Brust schon beim Anblick des Kleinen Milch verspritzt, oder die Gopis sich über ihn beklagen, aber erschrecken, wenn Mutter Yashoda die erzieherischen Konsequenzen zieht, dann ist dies ebenfalls eine mögliche Form dieser Religion, genannt Vatsalya Bhava. Im Christentum lebte sich diese elterliche Religion im Jesuskindkult aus. Madhuriya-bhava oder der honigsüße Zustand aber liegt vor, wenn die Hirtenmädchen und -frauen, insbesondere die verheiratete Radha, alle Anstandsregeln mißachten, um ihre erotische Liebe zu Krishna auszuleben, oder mißachten müssen. Aber auch die eheliche Liebe seiner Königinnen in Dwarka rechnet man zu dieser Religiosität. Diese erotischen Gottesbeziehungen gelten als die intensivsten Formen der Gottesliebe überhaupt. Die unbedingte Liebe der Gopis zu Krishna, so betont unter Rückgriff auf das Bhagavata Purana (11.12.7) Bon Maharaj, ist jedoch nicht durch religiöse Anstrengungen entstanden, sondern allein aus Gnaden: „The damsels of Vraja read not the Vedas, served not the saints, undertook no religious vows, performed no austere penances, and yet they achieved Prema for the Supreme Lord Sri Krsna, because of His causeless Grace only“[34]. All diese Bhavas können die Brijbhashis erleben. Abgesehen von den Tempel- und Hauspujas oder dem Besuch der Spielgründe Krishnas bei der Parikrama, dem örtlichen Pilgerumgang, treten diese Bhavas aber am wirkungsvollsten in die äußere Welt, wenn die Lilanukaranas stattfinden, die öffentlichen Aufführungen der Krishnaspiele. Bei ihnen können mit den nach Außen gerichteten Sinnen die Gottheit und ihre Mitspieler und Mitspielerinnen, zeitweilig inkarniert in den Mandalis, präpubertäre Brahmanenjungen, aktuell und konkret erlebt und kontaktiert und die dem je einzelnen möglichen Bhavas intensiv erfahren und ausgelebt werden. Die Vaishnava Dogmatik lehrt denn auch, wer Krishna im Sinn hat, erfüllt ist mit seinem Namen, der lebt in der Vollendung. Kein Wunder, daß der haßerfüllte Verfolger Krishnas, Kamsa, durch den Haß vollständig an Krishna angehaftet ist und dadurch apersonal erlöst wird [35]. Wenden wir uns nun einzelnen kindlichen Lilas Krishnas zu.

Krishnas Geburt und Rettung [36]

Nachdem Kamsa durch den Götterboten Narada gehört hatte, daß er vom Sohn seiner eigenen Schwester Devaki getötet werde, warf er sie und Vasudev, ihren Gemahl, ins Gefängnis. Jedesmal wenn sie ein Kind gebar, ließ Kamsa es töten. Aber als Krishna geboren wurde, konnte Vasudev das Kind unbemerkt, die Wächter schliefen, mit Hilfe der Flußgöttin Yamuna, die ihn trockenen Fußes durchs geteilte Flußbett schreiten ließ, zu den Hirten bringen; er tauschte Krishna mit der gerade geborenen Tochter von Yashoda aus. Yashoda merkte nichts, ihre Tochter entging glücklich den Häschern Kamsas. Um aber das gefährliche Kind zu töten, ließ Kamsa alle frischgeborenen Knaben des Braj töten. Krishna entging jedoch wundersam diesem Kindermord. Vasudeva, ein treuer Vasall Kamsas, wurde ganz offenbar von der Vatsalya ergriffen, die ihn dazu veranlaßte, sein göttliches Kind zu beschützen und zu retten. Die Sorge um den Erhalt Gottes ist eine Form der menschlichen Gottesliebe, die wir auch in der christlichen Tradition finden: Die Weisen aus dem Morgenland beschützen das Jesuskind, indem sie Herodes nicht informieren; und Joseph bringt das Kind nach Ägypten. Die gemeine Vorstellung, daß Gott nicht des Schutzes und der Fürsorge bedürfe, ist keineswegs allgemeingültig. Im Gegenteil: Die Verfolgung von Blasphemie, die Angriffe auf den Namen, d.h. die Kraft und Seele Gottes, spricht eine andere Sprache. Aber noch bedeutsamer ist, daß Gottesdienst oder Buddhadienst gerade diese Bedürftigkeit des Heiligen voraussetzen und auf sie mit Fürsorge reagieren. Deva-, Buddha- und Guru-Puja stellen die meist tagtägliche Versorgung des Heiligen dar. – Es würde hier zu weit führen, den ganzen Reichtum der Pujas zu skizzieren. Sie stellen die eigentliche und gewöhnliche religiöse Praxis der indogenen Religionen dar. Wer oder was immer das Heilige sein mag,, Hindus, Buddhisten, Sikh, Jain und Naturreligionen umsorgen auf diese Weise, was ihnen das Teuerste ist: eine Statue eines Buddhas, eines Tithankaras, eines Gottes oder einer Göttin, einen Baum, ein Buch, einen Holzklotz, einen Stein, eine Kuh, einen Berg oder einen Guru. – In der Puja-Religion ist Vatsalya, elterliche Gottesliebe, zur dominanten Weltreligion avanciert. Denn auch im Westen finden wir diese Religion wieder: in der Liturgie, dem Dienst am Heiligen, in der Messe, im Gottesdienst. Der Name Gottesdienst macht die Vatsalya deutlich. Doch weisen die gewöhnlichen westlichen Interpretationen des Gottesdienstes meist auf Dasya-Bhava hin. Dieser Wandel trat ein, weil das Gottesbild der herrschenden Theologien einen absolut selbstgenügsamen, allmächtigen und immateriellen Gott postulierte. An die Stelle selbstloser elterlicher Liebe trat als Motivation für den Gottesdienst die Verdienstgewinnung; Gottesdienst wurde zum Knechtsdienst. Die Verkümmerung der Liturgie im Westen ist das Resultat der Dominanz der Dasya-Religion. Interessanterweise tendiert die westlich beeinflußte Hare-Krishna-Bewegung zum Dasya-Dharma, obwohl die Brijbhashis dem Sakha-Dharma folgen. Vatsalya-Religion unterscheidet sich wesentlich von der Dasya-Religion darin, daß die Beziehung zum Heiligen nicht auf Herrschaft und Knechtschaft, d.h. auf äußerer Gewalt, auf Fesselung, sondern auf innerer Gewalt, auf Anziehung, beruht. – Seit dem 2. Vatikanum droht auch der katholischen Religion diese spirituelle Einengung. In der Ostkirche ist die Liturgie tabuisiert und deshalb kann die in der liturgischen Praxis geübte Vatsalya weiter wirken, oft auch verstanden als Knechtsdienst, als gutes Werk um guten Lohn.

Die Vernichtung der Putana [37]

Während in der eben besprochenen Lila Krishna sich passiv verhält, wird er in der folgenden Lila als Säugling aufs äußerste aktiv. Kamsa, in Furcht vor Krishna, beauftragte seine Schwester Putana, seinen Feind auszumachen und als schön anzusehende Amme getarnt durch vergiftete Milch umzubringen. Putana gelang es, des Säuglings habhaft zu werden und ihm die Brust zu reichen. Anstatt tot zusammenzufallen, begann Krishna mit aller Kraft die Milch aus Putanas Brust zu saugen, solange bis sie tot zu Boden stürzte. Da verwandelte sich die angebliche Amme in ein häßliches Riesenweib, und alle erkannten, daß sie von Kamsa geschickt war, den Liebling der Hirtinnen und Hirten zu töten. Erstaunlicherweise jedoch verbreitete die Verbrennung ihres garstigen Leibes einen wunderbar angenehmen Geruch. Die Vaishnava Orthodoxie versteht diese aromatische Aufwertung ganz im Sinne der oben bereits erwähnten Soteriologie: errettet wird, wer – wie immer geartet – in einer intensiven Beziehung zu Gott steht – und Amme sein ist eine der stärksten Beziehungen überhaupt. Sudhir Kakar versteht auf Grund seiner anthropozentrischen Grundannahme diese Lila als Wiedergabe der schrecklichen Erfahrung indischer Mütter, die ihre männlichen Kinder nicht aus der Vatsalya entlassen wollen, so daß die Mütterlichkeit zur Schizophrenie auslösenden emotionalen Umklammerung werde. Die bedohliche Mutterliebe müsse der Sohn der Mutter rauben [38]. Das Kind erzieht demnach die Säuglingsmutter dazu, sich auf den sich von ihr lösenden Sohn einzustellen. Wenn wir die Bhava-Theologie Rupa Goswamis heranziehen, dann bedeutet dies aber, daß die Vatsalya-Religion ihre Grenze darin hat, daß sie den Gott nicht in ihre Gewalt bekommen kann; versucht sie es, dann verwandelt sich ihr Lebenselixier Milch in tötendes Gift; die radikale Gesetzesreligion geht diesen Weg. Die radikalisierte elterliche Gottesliebe schlägt um in die Bindung des Heiligen an die je eigenen Herrschaftsbedürfnisse. Der Gott aber läßt sich nicht zum Dasa machen. Die Mutterbhaktin muß erfahren, daß ihre fromme Gabe, ihre Seele, sofern als Klebstoff gemeint, sie selbst zerstört. Aber die Zerstörung der absolut gesetzten Vatsalya ist ein gleichsam gnädiger Akt: indem sie, zu Gift geworden, der Bhaktin entzogen wird, wird sie wieder angenehm. Der Gott erlöst also auch von der angsterfüllten und daher herrschbegierigen Überfrömmigkeit. Wenn vorausgesetzt werden kann, daß Putana keine absolute Feindin Krishnas ist, dann kann ihr Verhalten in terms westlicher Religionstradition auch so verstanden werden, daß die Überfrömmigkeit, die Sucht, Gott durch exzessive Gottesliebe zu beherrschen, eben statt Nahrung Gift und d.h. Sünde hervorbringt, die im Fegefeuer dann verbrannt wird und dadurch dann als geläuterte Seele das rechte Verhältnis zur Gottheit wieder findet. Das Drama von der Entwöhnung der Gottheit, die Putana Lila, ist gleichsam das Korrektiv zur ersten Lila, der Vatsalya, der sinnvollen Umsorgung des Heiligen. Diese Umsorgung findet ihre dramatische Grenze im Versuch des Frommen, sich durch Gottesliebe die Gottheit abhängig zu machen, sie gleichsam auf Infantilität zu fixieren. Die heftige Aggression des Krishnakindes signalisiert die hervorragende Bedeutung der Zurückweisung der – protestantisch gesprochen – Werkgerechtigkeit.

Die Verbannung der Flußschlange Kaliya [39]

Eine weitere aggressive Handlung begeht Krishna als Kaliya Mardan. Wörtlich heißt dieser Hoheitstitel: der Vernichter der männlichen Kobra Kaliya. Kaliya, der Naga, Schlangenkönig, hauste mit seinen Naginis in der Yamuna. Zum Entsetzen der Brijbhashis vergiftete er eines Tages das Wasser. Eine ökologische Katastrophe brach über das Braj herein. Alles Leben im Fluß erstarb, aber auch Kühe und Hirten, die vom Wasser tranken, fanden den Tod. Der junge Krishna jedoch sprang beherzt, aber zum Entsetzen seiner Mutter Yashoda und aller anderen Hirtenfrauen, in den Fluß, um Kaliya das Handwerk zu legen. Als der empörte Schlangengott den frechen Eindringling fassen wollte, sprang ihm dieser auf seine fünf Schlangenhäupter und tanzte solange auf ihnen herum, bis die Naginis und der Naga um Gnade flehten. Krishna gewährte ihnen diese unter der Bedingung, daß sie schleunigst die Yamuna verließen und in den Ozean hinaus schwämmen. So geschah es denn auch, und die Hirten waren glücklich, daß dieses Umweltunglück vorüber war. Wir sehen an diesem Ende der Lila, daß die Bezeichnung Mardan (skrt. mrd), der Zerdrücker, Vernichter, nicht korrekt ist. Krishna läßt den Schlangengott leben. Das heißt, daß eine Kaliyageschichte einstmals von der errettenden Vernichtung des gefährlichen Flußbewohners berichtete. Krishna jedoch ließ gegenüber dem, der die Substanz der Schöpfung bedrohte, Gnade walten. Die Pointe der Lila liegt darin, daß ein Kind in seiner Unbekümmertheit die soziale Ohnmacht adulter Kulturen überwinden kann. Die Herrschaft unkontrollierbarer Gewalten, hier der vergiftenden Wasserwesen, kann so stark werden, daß sie die Lebensgrundlagen der Gesellschaft vernichtet, die Verantwortlichen aber nicht mehr in der Lage sind, Abwehr zu mobilisieren oder Reform durchzusetzen. Es ist das kindhafte Heilige, daß das Gift nicht fürchtet und die Befreiung erwirkt. Diese Eigenschaft, totale Existenzkrisen zu überwinden, vor ihrer Bewältigung nicht wegen der adulten Ohnmacht zu kapitulieren, macht es nötig, daß das Heilige zum Kinde wird. Die Brijbhashis führen sich immer wieder vor Augen, daß nur kindlicher Freimut den giftigen Schlangengott besiegen kann. Nur ein kindliches Bewußtsein läßt Gott triumphieren. Nur wenn Gott Kind wird, kann er seine Schöpfung retten und ins Lot bringen.

Krishna, der Butterdieb [40]

Ein solcher gewalttätiger Säugling, kaum zum Kleinkind geworden, zeichnet sich zum Schrecken der Hirtenfrauen dadurch aus, daß er ihnen unverfroren die Butter stiehlt. Butterdieb ist eines der höchsten Hoheitstitel des Krishnas der Brisjbhashis. Er ist der Dieb aller Diebe [41]. Auf unendlich vielen Postern, Statuen und Gemälden wird in Indien zur Freude der Bhaktas der Butterdieb in Aktion dargestellt. In schier unendlichen Variationen werden die Diebereien Krishnas in der Poesie besungen. Butterdiebstahl ist aber gerade unter den Kuhhirten ein großes Verbrechen, denn Ghee wird sowohl für die Ernährung der Menschen als auch für die Günstigstimmung der Götter gebraucht. Für die Hirtenfrauen ist die Herstellung der Butter zudem die aufwendigste Arbeit. Daß also Krishna Butter stiehlt, ist somit eine unerhörte Provokation der Hirtengesellschaft. Selbst einem Kinde kann eine Hirtengesellschaft eine solche Missetat nur mit strengen Auflagen nachsehen. Die Hirtenfrauen verlangen daher von Yashoda auch die Bestrafung des kleinen Diebes – so wie es der göttliche Dharma Vishnus verlangt. Als jedoch Mutter Yashoda schweren Herzens zum Stöckchen greift, um ihren Sohn zu züchtigen, brechen die Gopis in Wehklagen aus und bitten die Mutter, die Bestrafung zu beenden. Die Mutter beschuldigt daraufhin die Gopis, sie seien sowieso nur gekommen, um den Kleinen zu sehen. Die Verwirrung, die das göttliche Kind anrichtet, ist vollständig: es setzt den Dharma außer Kraft, ohne ihn zu beseitigen. Aber dieser Strolch Krishna geht noch weiter: Die Hirtenfrauen beschweren sich bei Mutter Yashoda, daß er nicht nur die Butter stiehlt, sondern obendrein in den von den Gopis gereinigten Hütten uriniert und seine Fäkalien hinterläßt [42]. Aber trotz all dieser vom Dharma verworfenen Taten, „setzt er sich neben dich wie ein unschuldiges Kind von gutem Betragen“[43]. Die Gopis erleben den gesetzesfreien Gott, weil er ihnen als Kind begegnet. Die Kindheit Gottes sichert seine Freiheit im Zusammensein mit den dem Dharma verpflichteten Menschen, ohne ein Tyrann wie Kamsa, der den Dharma zu vernichten sucht, zu werden. – Die Butterlilas zeigen deutlich das Grundthema der Brajreligion an: die Menschen lieben das vom Heiligen geschaffene und verteidigte Gesetz, aber das Heilige führt sie in die Verwirrung, wollen sie das Göttliche dem Gesetz unterwerfen. Aber auch die Verwirrung stiftende Bhakti, gipfelnd in Vatsalya und Madhuriya, kann nicht zum Mittel werden, das Heilige zu beherrschen – wie wir unten sehen werden. Der Krishnapoet Sur Das hat in einem Gedicht diese Hilflosigkeit gegenüber dem kleinen Butterdieb besungen:

Krishna guckte durch die Tür; niemand war anscheinend zu Hause.

Er blickt überall herum, und dann krabbelt er hinein.

Das Milchmädchen, wissend daß Krishna kommt, versteckte sich.

Krishna betrat das leere Haus und setzte sich nieder beim Butterfaß.

Als er einen Topf mit Butter sah, nahm er davon und aß.

Er bemerkte sein Spiegelbild in einer Juwelensäule und sprach es an:

Es ist das erste Mal, daß ich hierher gekommen bin, um zu stehlen.

Es ist gut, einen Freund wie dich zu haben.

Krishna aß und bot etwas Butter dem Spiegelbild an, und als die Butter auf die Erde fiel, fragte er:

Was ist los? Es schmeckt wunderbar. Warum ließest Du es fallen?

Wenn Du möchtest, überlasse ich Dir den ganzen Topf.

Es macht mich glücklich, Dir alles zu geben. Was hältst Du davon?

Als das Milchmädchen aus dem Braj diese Worte aus Krishnas Munde hörte,

brach sie in Lachen aus. [44]

Sur Das sagt, Krishna rannte weg, als er das Mädchen zu Gesicht bekam. Krishna stiftet also Verwirrung unter den Hirtenfrauen (einschl. seiner Mutter.) Indem er sie als Mohan, als liebreizendes Kind, verzaubert, macht er sie wehrlos, so daß sie den Dharma, dem sie treu ergeben sind, gegen ihn nicht durchsetzen können. Aber die ambivalente Haltung der Gopis zu Krishna, daß sie ihn einerseits tadeln und andererseits liebkosen, finden wir auch bei Krishna; ihm macht die zwiespältige Art zu schaffen. Sur Das läßt Krishna verzweifelt ausrufen:

Immer hänseln mich die Mädchen, Mama. Sie behaupten, ich sei ein Dieb!

Und wenn ich draußen spiele, dann zeigen sie auf mich.

Dabei holen mich die Frauen doch immer selber in ihre Häuser.

Dann küssen sie mich und nehmen mich auf ihren Arm.

Wenn sie beim Buttern sind, geben sie mir von der frischen Butter zu kosten.

Sie bitten mich sogar, davon zu essen.

Wo sie mich auch sehen, nehmen sie mich, drücken mich an sich und küssen mich.

Aber ich mag ihre Zärtlichkeiten gar nicht.

Yashoda legt lächelnd den Arm um ihren kleinen Shyam-Krishna und flüstert ihm zu:

Die Hirtenfrauen, die sind jetzt weit weg. Du aber, mein Sohn, bist ganz nah bei mir. [45]

Die Lila offenbart, daß also weder Dharma noch Bhakti das Heilige verfügbar machen können. Das Heilige ist und bleibt frei. Von Kindern wissen wir, wie hemmungslos und heftig sie auf over-protectiveness reagieren. Insofern Gott Kind ist, ist die heftige Anstrengung der Wahrung seiner Freiheit auch gegen mütterliche und sonstige weibliche Umarmung jedermann verständlich und verzeihlich. Anders gesagt: Wenn die absolute Freiheit von offener oder subtiler Herrschaft zum Wesen Gottes gehört, dann muß er auf Erden zur unbedingten Wahrung derselben Kind werden. Kindheit ist Wesensmerkmal des Heiligen.

Die Entthronung Indras am Govardhan [46]

Krishna, der Hirtenjunge, erlebt eines Tages, daß die Hirten im Braj dem vedischen und damit unsichtbaren Götterkönig Indra ein Opfer darbringen wollen. Ohne weiter zu fragen, erklärt er den Hirten, daß es doch widersinnig sei, Indra zu verehren, denn was habe man denn von ihm? Die Hirten lebten doch schließlich von den Kühen und vom Berg Govardhan, welcher Gras und Wasser spende. Deshalb sei es doch besser, ein Go-Puja und eine Govardhan-Puja zu feiern. Diese schockierende atheistische Kritik am vedischen Götterkult leuchtete den Hirten ein. So begannen sie also die Kühe zu schmücken und den Berg Govardhan zu verehren – und dies tun sie heute noch jedes Jahr. Der junge Krishna ergreift also in der Versammlung der Männer das Wort, schwingt sich zum Wortführer auf und überzeugt die Alten, den Götterkönig Indra, den mächtigen Führer der himmlischen Heerscharen und Regen- und Donnergott herauszufordern. (Eine gewisse Ähnlichkeit besitzt diese Lila schon mit der biblischen Geschichte von David und Goliath.) Doch Indra empört über die Verweigerung seiner Pujas überschüttet die Hirten mit einer wahren Sintflut. Doch Krishna ergreift den Berg Govardhan, setzt ihn auf seinen kleinen Finger und beschützt so die Hirten und Kühe vor den Wassermassen, die sie weggeschwemmt hätten. Nach 7 Tagen kapituliert der Götterkönig und anerkennt den Triumph des Knaben Krishna. Als dann die Hirten Krishna zu ihrem König machen wollen, lehnt er dies mit dem Argument entschieden ab, daß er einer von ihnen, ihnen gleich sein wolle. Dabei blieb es bis heute: Die Brijbhashis feiern alljährlich die Go-Puja und Govardhan-Puja und Krishna ist, so das Privileg der Hirten und Bewohner des Braj, nicht Gott oder König, sondern ihr Sakha, ihr Genosse. Indra wird nicht mehr versorgt. – Diese Idee, daß Gott ein menschliches Kind werde, zeigt zweierlei: 1. Gott ist frei und nicht an die Kultur und Religion der Alten gebunden, es kann neue Dimensionen erschließen und alte Strukturen hemmungs- und gewissenlos zerstören. Gott muß so betrachtet in seinem Wesen Kind sein. 2. Als Kind kann er auch ein Genosse der Menschen sein; denn diese wissen, daß Kindern stets das Neue und Andere zu eigen ist. Deshalb fürchten sie die Kinder und sozialisieren sie in einem teuren und intensiven Entkulturationsvorgang. Die innovative Kraft Gottes nimmt die ihr angemessene Gestalt im Kinde ein, die keine Rücksicht nimmt, nicht einmal vor der altehrwürdigen vedischen Religion samt ihrem angestammten Götterkönig Indra. Diese unverfrorene Religionskritik Krishnas zeigen auch zwei Lieder des berühmtesten und bis heute meist gesungenen Krishna-Kind-Verehrers Sur Das (16. Jh.). Nur einem Kind können solche atheistischen Attacken nachgesehen und damit aber auch ins Bewußtsein der Erwachsenen eindringen:

Gott ißt nichts!

Der Krishnapoet Sur Das singt:

Nanda führt gerade eine Puja durch. Krishna schaut zu.

Nanda läutet das Glöckchen und badet das Gottesbild;

Er reibt es mit Sandelholzpaste ein.

Auf einer Platte aus Palmblättern breitet er ein Speiseopfer aus;

Er umkreist es mit einer Flamme.

Und da sagt Kanha:

Vater, Du hast ein Opfer dargebracht,

aber Gott aß nichts davon.

Nanda schaut zu seiner Frau und ruft aus:

‚ast Du gehört, was Kanha sagte!

Falte Deine Hände, Surs Shyam,

erweise den Göttern Respekt,

dann werden sie es Dir wohl ergehen lassen! [47]

Krishna entpuppt sich hier gleich einem alttestestamentlichen Unheilspropheten als Kritiker der Murti-Religion, also jener Religion, die die Brijbhashis bis heute tagtäglich praktizieren. Die Religionskritik Krishnas wird von Vater Nanda, dem Sprecher der Hirten, noch nicht anerkannt, sondern als kindlicher Unverstand, der den Nutzen der Götterverehrung nicht kennt, korrigierend verziehen.

Krishna ißt Gott!

Diese erstaunliche Kritik des Götterbildkults, der Murti-Religion, verschärft sich aber in einem zweiten Lied des Sur Das: Hier beläßt es Krishna nicht bei bloßen Worten; er schreitet zur religionskritischen Tat. Sur Das singt:

Yashoda steht in der Nähe und schaut:

Der Anblick von Shyams kindlichem Spielen

überschwemmt ihr Gemüt mit Liebesglut.

Als Nanda den Gottesdienst durchführte

Und in tiefer Versenkung da saß,

Schnappte diebisch Kanha das Götterfigürchen

Und stopfte es in seinen Mund.

Nun, denkt er, laßt doch mal sehn

wie groß dieser ‚Gott‘ wirklich ist!

Nanda öffnet die Augen und schaut überall herum;

Aufgeschreckt und erstaunt fragt er:

Wohin ist mein Gott gegangen? Wer hat ihn weggenommen?

Da zeigte Yashoda auf ihren Sohn:

Laß uns mal in deinen Mund schauen, Kanhai.

Warum hast du den Gott in deinen Mund gesteckt?

Du hast ihn aufgelöst, er ist ruiniert!

Und dann öffnete weit er seinen Mund

Und die drei Welten wurden da sichtbar;

Und als Nanda hineinschaute

O Sur, war er verblüfft und

Fand keine Worte. [48]

Krishna tut das, was ein Kind eben tut, wenn es einen Gegenstand auf seine Verwertbarkeit prüfen will: es steckt ihn in seinen Mund. Das Ergebnis weiß in diesem Falle Mutter Yashoda: der Gott löst sich in Nichts auf und wird damit ruiniert. Nun kennen wir das Essen des Gottes auch in der christlichen Religion: die Kommunion. Bei dieser aber wird Gott durch das Sichauflösen im Munde des Gläubigen nicht vernichtet und ruiniert; vielmehr erreicht er gerade auf diese Weise den gesetzten Zweck, den Kommunikanten mit Gratia, Gnade, göttlicher Kraft, zu erfüllen. Krishnas Gottesvertilgen dagegen soll das Verehrungsobjekt verschwinden lassen: als Beweis dafür, daß es geringwertig ist und daher keine Puja verdient. Eine solche gotteslästerliche Freveltat kann Krishna aber nur deshalb ohne Angst vor inneren und äußeren Konsequenzen begehen, weil er ein Kind ist. Aber nun gilt im Braj: Krishna duldet keinen anderen neben sich, keinen Gott im Himmel noch auf Erden; weder unsichtbare noch sichtbare Gottheiten. Ist Krishna damit der einzige Gott? Gerade nicht: denn im Braj kann er auf vielfältige Weise verehrt werden wie wir oben gesehen haben. Eine besondere und abgehobene Gottesverehrung ist nicht darunter. Die Überprüfung der frevelhaften Handlung Krishnas durch die Eltern, also ein Akt gebilligter Vatsalya, läßt den dharmatreuen Nanda, der wie der Dharma befiehlt, die Götter verehrt, in der stets sich ereignenden unauflöslichen Ursituation der Religion zurück: der Verwirrung, die entsteht, wenn das Heilige begriffen werden soll. Daß das Heilige incomprehensibilis sei, ist eine dogmatische Selbstverständlichkeit in den Religionen. Aber dazu gehört auch, daß es noch nicht einmal als Gott dingfest gemacht werden kann; es bleibt transzendent, unverfügbar, und dennoch omnipresent, allgegenwärtig.

Raslila: Der Rundtanz in der Vollmondnacht

Die ärgste Provokation Krishnas jedoch, die den Theologen der Religionsgemeinschaften, die ihn als Gott verehren, die größten Kopfschmerzen bereiteten, bestand darin, daß er – ein Kind – ein ehebrecherisches Verhältnis zu den Hirtenfrauen hatte. Besonders intensiv war die Liebesbeziehung zu Radha aus Barsana. Die Frage der illegitimen Beziehung hat die theologischen Verehrer Krishnas gespalten, in die Svakiyas und die Parakiyas. Die dharmatreuen Apologeten beteuerten, daß die Gopis Krishnas Ehefrauen gewesen seien. Der bedeutendste Theologe der Krishna-Religion, der schon erwähnte Rupa Goswami, erklärte daher die Gopis zu Ehefrauen Krishnas, die ihre Ehen mit ihren Ehemännern nie vollzogen hätten; dieser Sachverhalt sei den Ehemännern durch Krishnas Zauberkunst jedoch verborgen geblieben. Die Parakiyas dagegen argumentierten, daß die Gopis unverheiratet gewesen sein müssen, weil die denkbar intensivste Liebe, die überhaupt möglich sei, und diese hätten doch die Gopis gegenüber Krishna empfunden, die Liebe zwischen zwei Unverheirateten sei. Dies ist einleuchtend in einer Kultur, in der persönliche oder gar erotische Liebe zwischen Eheleuten verpönt ist, weil sie zu viel Gefahren für die Großfamilie mit sich bringt. – Die Brijbhashis haben diese theologischen Konflikte nie angefochten: Für sie ist Radha mit Abhimanyu verheiratet und treibt sich mit Krishna unschicklich in den Büschen herum.- denn es gilt die Erfahrung, daß die Liebe einer Frau dann am stärksten ist, wenn sie, obwohl verheiratet, einem Liebhaber nachläuft. Moralisch betrachtet war und ist diese Liebesbeziehung allerdings die unerträglichste. Aber gerade dadurch tritt wieder die extreme Spannung zwischen Manav Dharma und verwirrender, ja verwildernder Gottesliebe zu Tage. Die Brijbhashis haben diese unerträgliche Spannung ertragen und den Dharma nicht gegen das Heilige und umgekehrt ausgespielt. – Gerade an dieser Lila offenbart sich den Brijbhashis, daß es eine Wirklichkeit gibt für die der Mensch entbrennen kann, so daß das allerheiligste Dharma-Gesetz, die Ehe, ihre Gewalt selbst über Frauen verliert. Daß aber nicht die bloße Sinnenlust Triebkraft der Vereinigung Krishnas mit den Hirtenfrauen ist, das wird deutlich, wenn die Lila der Brijbhashis vom großen Rundtanz zeigt, daß der Gott der Fleischeslust, Kamadeva, seinen Pfeil auf Krishna nicht abschießen kann, sondern tot niederfällt und Rati, die Ehefrau des Liebesgottes, nur noch verzweifelt ausrufen kann:

O mein Lebensblut! Welch schreckliches Schicksal!

Die Erde ist ohne dich, entblößt, verloren.

Ich sagte dir zuvor, kämpfe nicht mit diesem Knaben –

Jetzt habe ich keine andere Zukunft, als Sati allein! [49]

Das Problem ist nicht die Liebeslust, sondern die Erfahrung des Heiligen, das über allem Dharma steht: Als Krishna die Gopis wegschicken will, sagt ihm eine der Sakhis:

Höre Syam Sundar, du schöner dunkler!

Warum sollten wir nach Braj zurückkehren wollen

Nachdem wir gesehen haben, was das Universum sehen möchte?

Da gibt’s doch niemanden, der uns umsorgen könnte,

so sag, was du willst, wir haben kein andres Heim.

Väter? Mütter? Wer sind diese?

Wir kennen sie nicht mehr.

Wer von uns will noch Ehemänner anlocken, und Söhne?

Wo sind die Häuser, zu denen wir heimkehren sollen?

Moral – was ist das? Und Sünden?

Wir sind verrückt geworden, wir haben dergleichen vergessen.

Wir sind einfache Mädchen und so scheint doch nichts einfacher zu sein

Als dich zu treffen, Krishna,

und nachdem wir solches getan,

wie, sagt, Sur Das, können wir da jemals Reue empfinden? [50]

Die Hirtenfrauen erleben im Rundtanz in der Vollmondnacht die Transzendenz ihres wohlgeordneten und wohlgelittenen Lebens. Herausgerissen aus dem sicheren Fundament ihrer Existenz durch ein unbekümmertes Kind flüchten sie nicht zurück in das erfüllte Dasein, sondern überlassen sich der Hingabe an das real-Unmögliche: die Brijbhashi nennen diesen tragischen Zustand Bhakti. Die Hirtenfrauen stellen sich dem Heiligen und geben seine Beherrschung durch den Dharma auf. Die Schärfe des existentiellen Konflikts, die die Begegnung mit dem Heiligen mit sich bringt, bleibt jedoch erhalten und wird nicht aufgelöst. Dies wird an der folgenden Lila deutlich.

Der Diebstahl der Flöte

Denn eine der erstaunlichsten Lilas stellt die Geschichte vom Diebstahl der Flöte dar [51]. Im Braj spielt in der Beziehung Krishnas zu den Hirtenfrauen das Blasen der Flöte eine zentrale Rolle. Diese verfügt über eine geradezu magische Anziehungskraft. Aber nicht nur für die Kühe, sondern eben auch für die Gopis. Ist es für die Hirten im Braj selbstverständlich, mit Hilfe dieser Bambusflöte die Kühe anzulocken, so ist es alles andere als erträglich, daß auch die Hirtinnen dadurch aus ihrem alltäglichen Leben gerissen werden. Der Hirte Krishna spielt nicht nur auf der Weide, sondern immer wieder auch auf dem Zeltplatz die Flöte. Dieses Spiel der Bambusflöte aber versetzt die Hirtenfrauen in Raserei. Sie werden so stark von dem süßen Klang angezogen, daß sie Arbeit, Kind und Mann verlassen, um zu Krishna zu eilen. Ganz offenkundig lieben die Gopis aber ihr alltägliches Leben. Sie leiden nicht an ihrer Welt. Sie beklagen sich nicht über ihre Ehemänner, ihre Kinder, ja nicht einmal ihre Schwiegermütter sind ihnen eine besondere Last. Ihre Arbeit, das Melken der Kühe und das Quirlen des Butterfasses geht ihnen leicht von der Hand. Sie sind anständige, arbeitsmotivierte und lebensfrohe Frauen. Sie lieben die Nachbarn und verehren die Götter. Ein Leiden an der Welt geschweige denn eine weltflüchtige Religion kennen sie nicht. Die Gopis sind also im Dharma aufgegangen, im Frieden mit dem Gesetz. Zu ihrem Glück brauchen sie nichts weiter, schon gar nicht Krishna. Freiwillig lieferten sie sich ihm nicht aus. Den angeblichen Hindu Überdruß am Diesseits sucht man bei ihnen vergebens. Dieses muß festgehalten werden, weil oftmals Krishna-Verehrer wie Hindu-Kritiker im Westen glauben, man müsse dem weltlichen Leben entsagen, von sich aus Krishna aufsuchen und alternativ zur weltlichen Lebensgestaltung ihm allein dienen, als Dasyas, als Religionsarbeiter. Aber die Gopis kennen keine Bekehrung. Alles geschieht vorab gegen ihren bewußten Willen. Gott drängt sich ihnen auf, und sie wehren sich heftigst gegen diese göttliche Vereinnahmung. Honigsüße setzt Krishna als Fangmittel ein, ein Lockmittel, dem sich niemand entziehen kann. Wie schrecklich sich das honigsüße Flötenspiel für die Gopis auswirkt, zeigen die ihre Klagelieder:

Ein armes Mädchen ist heut‘ hinüber gegangen, meine Freundin,

sie war unfähig, selbst sich anzuziehen;

Ihre Mutter kann nichts tun als zu den Göttern beten;

Und ihre Schwiegermutter hat den Exorzisten bestellt.

Wer verhexte diese streunende Kuh mit dem Spiel seiner schönen Bambusflöte?

Wann immer sie hört der Flöte Klang, sagt sie allem Anstand ade.

Sie wendet ihren Lauf zu Nandas (, zu eines fremden Mannes) Haus!

Was sollen wir nur mit dieser Jungvermählten anfangen?

Wo, sagt der Dichter Rakshan, gibt es im Braj eine Frau,

die Krishna nicht durcheinander gewirbelt und wie einen Kreisel herumgedreht hat?

Herr der Gefühle, Du, der Du die Frauen des Braj eingefangen hast,

warum ist er darauf aus, uns wie Wild zu erlegen

und uns dem Gespött preiszugeben? [52]

Diese Existenzkrise der Gopis, daß sie vom Klang des Heiligen aus allen Bahnen geworfen werden, veranlaßt sie als praktisch denkende Frauen, die Lösung des Konflikts selber in die Hand zu nehmen und zu ihren Gunsten zu lösen. Deshalb verabreden sie sich in einer Verschwörung unter Führung der Lieblingsgopi Krishnas, der Radha von Barshana, Krishna die Flöte zu stehlen. Das plausible Argument der Gopis lautet: Ohne Flöte ist Krishna machtlos. Das also, was sie verwirrt, ist nicht der Anblick oder die Worte und Handlungen Krishnas, sondern nur die Sirenenmusik seiner Bambusflöte. Allmächtig, sagen die Frauen, ist nicht Krishna, sondern Banshi Vam. Besonders empört sind sie, daß ein Asylant, ein Flüchtling, es wagt, sie, die eingesessenen Hirtenfrauen, mittels Banshi Vam zwangsweise aus ihrem guten Leben herauszulocken und gegen ihren Willen an sich zu binden – auch wenn sie nicht widerstehen. Die Degradierung Krishnas zeigt den ganzen Zorn und Widerstand der Gopis, von Krishnas Flöte in den Zustand des honigsüßen Gefühls von Madhuriya versetzt zu werden. Den Frauen gelingt es auf äußerst schlaue Weise, die Eitelkeit eines Brahmanenjungen, eines Freundes Krishnas, ausnutzend, sich der Zauberflöte zu bemächtigen. Krishna jedoch durchschaut das Treiben der Frauen und geht vors Gericht, um seine Flöte wiederzubekommen. Als Königin des Braj ist jedoch Radha Richterin. Als diese bei der Verhandlung die von ihr selbst unter ihrem Sitz versteckte Flöte durch eine Bewegung zum Vorschein bringt, und Krishna dies bemerkt, sieht sie sich als Rani, als Verteidigerin des Dharma, gezwungen, Krishna sein Eigentum zurückzugeben. Vergebens verlangen die Gopis als Bedingung der Rückgabe, daß Krishna nur dann die Flöte blasen dürfe, wenn sie ihre alltägliche Arbeit erledigt hätten. Krishna weist dieses Ansinnen entschieden zurück, weil er dann niemals flöten könne, arbeiteten sie doch Tag und Nacht. Das Ergebnis des Streits ist offenkundig: Die Gopis lieben ihre Bestimmung als Hirtinnen, Töchter, Ehefrauen, Mütter oder Schwiegermütter. Zugleich aber können sie sich nicht dem honig-süßen Klang seiner Flöte entziehen. Diese Widersprüchlichkeit der Gopi-Existenz wird in der westlichen Tradition in der Lehre von Spannung von Gesetz und Evangelium formuliert. Krishnas Auswahl ist nicht an Lohn und Verdienst gebunden; nirgendwo steht, daß der honig-süße Klang der Flöte nur für besonders moralische und fromme Gopis vernehmbar sei. Er zieht alle an, die ihn hören. Indem die Lila keine Lösung anbietet, werden die Brijbhashis in ihrer dharmatreuen Existenz nicht sicher sein können, wenn sie sich auch nichts anderes wünschen. Das Ärgernis der Flöte, das Skandalon der sie bewirkenden Torheit, können sie mit ihrem Dharma, der Gerechtigkeit, nicht besiegen; denn ihre Gerechtigkeit hat sich selbst gefesselt: das Evangelium Krishnas, Banshi Vam, ist tabu für das Gesetz. Krishnas Anarchie wird vom Gesetz geschützt. Es ist das Kind, daß mit seiner spontanen und regelstörenden Art die Hüter des Gesetzes überrascht und sie zugleich nach dem Gesetz außer Gefecht setzen darf; der Erwachsene hat strikt das Gesetz zu befolgen. Die großen Erfahrungen und Taten des Gottes Krishnas geschahen in seiner Kindheit. Diese Kindheit erklärt seine Freiheit vom Gesetz und zugleich seine Gewährleistung desselben. Er zerstört nicht den Dharma, sondern relativiert und stabilisiert ihn zugleich. Er demonstriert, daß er der Herr des Dharmas ist, nicht sein Knecht und nicht sein Zerstörer. Der Gott bedarf der Umsorgung, puja, aber nicht der Beherrschung. Der Fromme wird also in seine Schranken gewiesen, in denen er aber eine erfüllte Existenz leben kann.

Allein der Kindgott!

Im Braj wird nun aber die Verehrung des Krishnakindes nicht so verstanden, daß es sich dabei gleichsam nur um die Verehrung der zeitweiligen Kindheit eines Gottes handelte, die mit fortschreitendem Alter dann in die Verehrung des Gottes in seiner Erwachsenenphase hinüberglitte. So geschieht es gemeinhin in den meisten Religionen, wenn sie das Göttliche und Heilige in biographischer Form verehren. Meistens wird die erwachsene Gottesform auch höher gewertet als die kindliche. Das religiös triumphierende Christentum ist – trotz des Zachariasbekenntnissses zum Kindgott Jesus – ein klassisches Beispiel dafür. – In der Religion der Hirtenfrauen, die die Lieder des Surdas singen, ist jedoch die Kindheit Gottes keine vorübergehende Phase, kein vergängliches Merkmal, das den Weg freimachen müsse, damit der Gott seine vollkommene Gestalt annehmen könne. Ganz im Gegenteil: die Hirtenfrauen verwerfen jede andere Gestalt des Krishna außer der kindlichen. Gott ist für sie nur und allein als Kind interessant. Geradezu frevlerisch stellen sie alle erwachsenen Gestalten, die allgemein Krishna zugesprochen werden, radikal in Frage. Als Krishna, um Kamsa zu töten, nach Mathura gegangen war, fielen die Hirtenfrauen über diesen Verlust, in tiefe Trauer. Deshalb schickte er ihnen Uddhav als Tröster. Der Trost bestand in der advaita-theologischen Lehre, daß Krishna doch als der Alles Durchdringende überall realiter gegenwärtig sei, daher auch in ihnen selbst; dies könnten sie durch Meditation wahrnehmen. Dann aber wären sie nicht von ihm getrennt und somit getröstet.

Hört, ihr Hirtenfrauen, Haris Botschaft:

Meditiert auf ihn, indem ihr in euch selbst hinein schaut –

Das ist die Lehre des Herrn.

Er ist unerkennbar, ewig, alldurchdringend,

und wohnt in jedem Menschen;

fixiert entschlossen Euren Geist auf ihn

und bringt den Lotos Krishnas in Euer Herz hinein.

Auf diese Weise verliert ihr Euren Liebesschmerz

Und vereinigt Euch mit der Höchsten Seele; … [53]

Empört weisen die Gopis Uddhavs religiösen Trost‚ dem sie sofort unterstellen, die Machtgestalten von erwachsenen Gottheiten anzubieten, zurück:

Wer ist’s, den du uns beschreibst, Uddhav?

Höre Uddhav, wir verstehen dich nicht,

drum bitten wir dich, erkläre’s uns.

Wer ist schon der Beschützer von Mathura?

Wer brachte schon Kamsa um?

Wer ist schon der Sohn von Vasudev? [54]

Die Hirtenfrauen verehren nur den Gott, der nichts Machtvolles an sich hat, sondern als Hirtenjunge zusammen mit anderen Hirtenjungen täglich die Kühe hütet. Er ist nur insofern der Allergrößte, als er einen unwiderstehlichen kindlichen Liebreiz ausstrahlt. Krishna, das ewige Kind, ist der Anti-Gott, das Gegenteil von der allmächtigen Gottheit, von der die Heiligen Schriften berichten und die sie den Einen nennen. Sie aber nennen ihn parama manohara, der, welcher hinreißend wie kein anderer ist, der, welcher das Leben raubt, der, welcher das Herz erfreut [55]. Und sie fragen deshalb Uddhav weiter:

Wer aber ist schon dieser ‚allgegenwärtige, alles durchdringende, ewige Einer‘?

Wer ist das schon, von dem endlos Brahma und die Vedas schreiben? [55]

Die theologischen Behauptungen Uddhavs über Krishna, die die heutige vishnuitische Normalreligion ausmachen, provozieren die Hirtenfrauen zu einem äußerst radikalen Satz über die Botschaft von Krishnas Emmissär. Sur Das singt:

Vergebens sagst Du, Uddhav, solche nutzlosen Dinge,

denn hier im Braj ist Nandas Sohn. [56]

Unsinn redet also Uddhav, wenn er behauptet, Krishna sei als Kind nicht mehr existent. Den Beweis, daß Gott auch heute noch Kind ist, und damit den Beweis für die exklusive Kindlichkeit Gottes, können die Sängerinnen des Bhramargits beweisen. Die Realpräsenz des kindlichen Gottes, der allein sie interessiert, bezeugen ihre Augen Tag für Tag. – Zunächst weinten sie sich, weil Krishna nach Mathura gegangen war, nach ihm die Augen aus:

Als Krishna noch im Honigwald wohnte,

konnten wir stets hoffen,

ihn zu Gesicht zu bekommen;

nun aber sind unsere Augen müde geworden,

vom dauernden Schauen,

ob er des Weges komme. [57]

Dann aber stellten sie fest, daß er, als Kind, mitten unter ihnen lebt, denn:

täglich zieht er aus, die Kühe zu weiden,

nimmt dazu die Hirtenjungen mit;

am Abend des Tags kommt er heim,

und unsere Augen werden gestillt so wir ihn festhalten. [58]

Die Pointe des Liedes liegt gerade darin, den gleichsam empirischen Beweis erbracht zu haben, daß die Kindlichkeit Gottes noch immer währt, so daß den anderen Gottesformen Krishnas keine Wahrheit zukommt. Die Logik des Gesangs ist klar: dieser kindliche Krishna ist ewig gegenwärtig. – Das Lied des Sur Das, das heute so begeistert gesungen wird wie einst, zeigt, daß im Braj die Kindlichkeit als Wesen des Heiligen ihre klassische religiöse Ausdrucksform gefunden hat.

  1. Theologisches Ergebnis

Kindheit ist keine zufällige, sondern wesentliche Eigenschaft des Heiligen. Das Heilige kann seine Freiheit, d.h. seine Unverfügbarkeit, nur als Kind verwirklichen, es ist somit wesenhaft Kind. Die Kindlichkeit des Heiligen ist Grund also von dessen absoluter Freiheit. Diese Freiheit läßt sich nicht durch Dharma, Bhakti, Gesetzestreue, brennende Liebe zu Gott, Meditation oder Ekstase einschränken. Das freie Heilige erschließt aber den Frommen eine nicht minder freie Existenz: Welche Religion die Hirtenfrauen pflegen, auf welche Weise sie Krishna verehren, entscheiden sie selbst. Die selbstbewußten Brijbhashis bestimmen ihre Gottesliebe selbst, selbst Gott, den Gegenstand ihrer Liebe, lassen sie nicht über ihre tiefsten Gefühle herrschen. Der Gott der Brijbhashis ist nicht ein erwachsener Gewaltherrscher, der alles vorschreibt und die Übertretungen seiner Vorschriften ahndet, vielleicht generös vergibt, sondern ein unbekümmertes Kind, das alle Lebewesen in sein endloses Spiel hineinzieht. Wenn auch in den westlichen und den indo-asiatischen Religionen die Kindlichkeit des Heiligen nicht ausgerottet werden konnte, vielmehr in der Volksfrömmigkeit kräftig blühte, so hat doch die Religion des Sur Das und seiner Gefolgsleute im Braj als radikalste Ketzerei gegen die religiösen Gewalt- und Machtideen die Kindheitsreligion am klarsten entwickelt und am reinsten bewahrt.

Anmerkungen

Diakritische Zeichen werden nicht berücksichtigt.

[0] Die überragende theologische Bedeutung Jesu im Islam, die aus späteren interreligiösen Abgrenzungsgründen herunter gespielt wurde, hat neuerdings M. N. Anderson in seiner Schrift: Jesus the Light and Fragrance of God

[http://answering-islam.org.uk/Resources/index.html]

herausgearbeitet. Damit gewinnt auch die Kindheit Jesu eine noch größere theologische Bedeutung im Islam.

[1] Koran 12, 29; Annemarie Schimmel, Jesus und Maria in der islamischen Mystik. München 1996, S. 12

[2] Schimmel, S. 89

[3] Schimmel, S.113

[4] s. Paula Richman: Tamil Songs to God as Child. In: Religions of India in Practise. Ed. by Donald S. Lopez, Jr. Princeton 1995, S. 209 ff.

[5] lalita, adj. = spielbezogen, spielerisch, Spiele zum Inhalt habend; vistara, m. = ausführliche Erzählung.

[6] Ernst Waldschmidt: Die Legenden vom Leben des Buddha, dharma edition, Hamburg 1981, S. [= Wa]

[7] Wa 19

[8] Wa 19

[9] Wa 20.

[10] Wa 21

[11] Wa 27

[12] Wa 31).

[13] Buddha: Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. München 1961, S. 87

[14] Wa 59

[15] Wa 60

[16] Wa 60

[17] Wa 61 f.

[18] Wa 64

[19] Wa 73 f.

[20] Wa 63

[21] Wa 65 f.

[22] Wa 66 f.

[23] Wa 67 f.

[24] Wa 63 f.

[25] Wa 63

[26] Wa 69

[27] Vgl. Bhupendra Kumar Modi: Hinduism – The Universal Truth. New Delhi 1993

[28] Vgl. Edmund Weber: Der Diebstahl der Flöte. In: Journal of Religious Culture Nr. 22

[29] Kindheit und Gesellschaft in Indien. Frankfurt am Main 1988

[30] Vgl. Edmund Weber: Die Gegenwart des Heiligen im lilanukarana. Zur Theologie des Spiels in der Religion des Braj. In: Theion – Jahrbuch für Religionskultur II, 1993, S. 169 ff.

[31] Rupa Goswami’s Bhakti-Rasamrta-Sindhu, Vol. I, Tr. By Tridandi Swami Bhakti Hrdaya Bon Maharaj. Vrindavan 1965, S. XXV f. und S.329.

[32] Rupa Goswami’s Bhakti-Rasamrta-Sindhu, Vol. I, S. XXV

[33] Rupa Goswami’s Bhakti-Rasamrta-Sindhu, Vol. I, S. XXV

[34] Rupa Goswami’s Bhakti-Rasamrta-Sindhu, Vol. I, S. XXVI

[35] Rupa Goswami’s Bhakti-Rasamrta-Sindhu, Vol. I, S. 279: „Commentary: Kamsa and Sisipula, the enemies of Lord Krishan, attainend Sayjya-Mukti by merging their bodies in the Body of Lord Krisna through absolute mental absorption in Lord Krsna out of fear and malice respectively, i. e. they attained Brahman by merging in the Brahman …“

[36] Hari Vamsa [HV] 47-48, s. Vishnu Purana [ViP] 5.1.3, s. Bhagavata Purana [BhP] 10.1.4

[37] HV 50.20 ff., s. ViP 5.5., s. BhP 10.6.1-34

[38] Kindheit und Gesellschaft in Indien, S. 182.

[39] HV 55-56, s. ViP 5.7, s. BhP 10.15.47-17.19

[40] BhP X.8.26-31;IV, 35-36

[41] Vgl. John Str. Hawley: Krishna: The Butter Thief. Princeton 1983

[42] BhP X. 8.26-31

[43] BhP X. 8.34

[44] Kenneth E. Bryant: Poems to the Child-God. Structures and Strategies in the Poetry of Surdas. Berkeley etc. 1978 (= Child-God), Übers. ins Deutsche v. Verf., S. 175 f.

[45] Surdas: Krishnayana. Das Hohelied des Gottes Krishna. Eine Auswahl aus dem zehnten Buch des Sursagar. Hrsg. Von Natalija Michailovna Sazanova. Leipzig und Weimar 1978, S.76

[46] (HV 59-62; ViP 5.10-11; BhP 10.24-28)

[47] Child-God, S. 174

[48] Child-God, S. 175

[49] John Str. Hawley and Shrivatsa Goswami: At Play with Krishna. Pilgrimage Dramas from Brindavan. Delhi 1992 (= At Play with Krishna), Übers. ins Deutsche v. Verf., S. 218

[50] At Play with Krishna, S.-212

[51] At Play with Krishna, S. 115 ff.; vgl. Edmund Weber: Der Diebstahl der Flöte. In: Journal of Religious Culture Nr. 22

[52] At Play with Krishna, S. 120

[53] Songs of Surdas: The Bhramar-git: Der Gesang der Biene. Gesungen von Purshotamdas Jalota aus Brindaban. CD-Rom 1991. compact disc digital audio. Beiheft (= Bhramargit), Übers. ins Deutsche v. Verf., S. 7-8)

[54] Bhramargit, S. S. 9-10

[55] Bhramargit, S. 9-10; parama manohara.

[56] Bhramargit, S. 9-10

[57] Bhramargit, S. 15-16

[58] Bhramargit, S. 9-10

Bildnachweis:

  1. Jesuskind und Mutter Maria. Von Uma Roychoudhury. Im Privatbesitz der Künstlerin. Deutschland. 2. Jungfrau und das Kind. Islamische Moghul-Kunst. Indien. In: Annemarie Schimmel: Jesus und Maria. München 1966. 3. Junger predigender Buddha. Skulptur aus Lumbini. Nepal. Foto: Jean-Louis Nou. In: Jean Boisellier: Buddha. Ravensburg 1995. 4.Krishna, der Butterdieb. Poster. Indien. 5. Radha Raman. Murti des Radha Raman Tempel, Brindaban (U.P.), Indien. Poster. Indien.

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Der Artikel ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen der interdisziplinären Ringvorlesung „Perspektiven auf Kinder und Kindheit“ im WS 1998/99 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität gehalten wurde.

Link zum Artikel: relkultur29

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