Nr. 12a (1997)

Historische Theologie und interreligiöser Dialog

„… in keiner anderen als der menschlichen Gestalt ist es möglich,

daß die Wesen mein wirkliches Sein erfahren und kennenlernen.“

Nr. 12a (1997)

von Matthias Benad

Daß Gott Mensch werden müsse, um den Menschen das Wesen Gottes zu offenbaren, ist kein ausschließlich im Christentum verbreiteter Gedanke. Im Bhagavata Purana, einer der heiligen Schriften der Hindus, spricht Gott Vishnu bei Gelegenheit seiner Menschwerdung als Krishna den oben zitierten Satz. In einer immer kleiner werdenden Welt gewinnt die gegenseitige Wahrnehmung der Religionen immer größere Bedeutung. Meine Absicht ist es, mich im folgenden darüber zu äußern, welchen Beitrag die von mir vertretene theologische Disziplin, die Kirchengeschichte oder historische Theologie[1], dazu leisten kann, andere Religionen zur Kenntnis zu nehmen und das Gespräch mit ihnen zu suchen. Als Bezugspunkt dient mir im folgenden die Krishna-Verehrung [2]. Meine Ausführungen gliedern sich in fünf Abschnitte:

– Zwei Überlieferung, wie Gott Mensch wurde.

– Problemstellung und Aufgabe der interreligiösen Begegnung.

– Historische Theologie nach ihrer geschichtlichen Seite.

– Historische Theologie nach ihrer theologischen Seite.

– Überlegungen zum Gespräch mit anderen Religionen als Begegnung zwischen ähnlichen Größen.

I

Zwei Geburtsgeschichten: Die Überlieferung von der Geburt Jesu ist in unserem Kulturkreis präsent. Ich will in Umrissen die Geburtsgeschichte Krishnas wiedergeben, um einen Vergleich zu ermöglichen. Was in der christlichen Tradition Bethlehem ist, ist vielen Vaishnavas, den Verehrern des Gottes Vishnu, Mathura. Die Stadt liegt 120 Kilometer südsüdöstlich von Delhi im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, im Heiligen Land Braj an den Ufern der Yamuna. In Mathura kam Krishna, die 8. Inkarnation Gott Vishnus, zur Welt. Jesus wurde geboren, als in Jerusalem der grausame König Herodes regierte. Dieser fürchtete um seinen Thron und ließ alle Neugeborenen in Bethlehem töten. In Mathura war der böse König Kamsa an der Macht, als Krishna zur Welt kam. Auch Kamsa stellte dem menschgewordenen Gott nach, indem er Neugeborene töten ließ. Betrachten wir die Überlieferung genauer:

Vasudeva, einer der edlen Hofbeamten des Königs Kamsa, wollte die Cousine des Königs, die schöne Prinzessin Devaki, heirateten. Da erhielt Kamsa die Weissagung, daß er bald sterben werde: Das achte Kind des Hochzeitspaares werde ihn überwinden und töten. Um das zu verhindern, wollte Kamsa seine Cousine Devaki noch in der Hochzeitskutsche umbringen. Aber Vasudeva flehte um das Leben seiner Frau. Kamsa ließ sich erweichen unter einer Bedingung: Vasudeva und Devaki mußten ihr Leben im Kerker des Palastes zubringen und jedes neugeborene Kind sofort ausliefern. – So folgten Jahre der Gefangenschaft, in denen jedes Kind, daß den beiden geboren wurde, dem bösen König übergeben werden mußte. Dann war Devaki zum achten Mal schwanger. Im Baghavata Purana heißt es über die Geburt Krishnas:

„Um Mitternacht, als die Dunkelheit am stärksten war,

entfaltete der Herr Vishnu seine vollkommene göttliche Macht.

Wie der Vollmond im Osten ging er aus der göttingleichen Devaki hervor.

(…)

Der Herr sprach zu Devaki:

‚ (…) in keiner anderen als der menschlichen Gestalt ist es möglich, daß die Wesen mein wirkliches Sein erfahren und kennenlernen.

Nun werde ich die Gestalt eines menschlichen Säuglings annehmen.

Denke immer an mich als deinen Sohn.

Wenn du Kamsa noch fürchtest, dann bringe mich schnell nach Gokula

und vertausche mich mit meiner Maya, die soeben von Yashoda geboren worden ist“[3].

In den letzten Zeilen wird der Weg vorgezeichnet, auf dem das neugeborene Kind gerettet wird. Nachdem Krishna geboren war und Vishnu gesprochen hatte, lösten sich die Ketten von Vasudevas Händen, die Türen des Kerkers taten sich auf und die Wächter fielen in einen tiefen Schlaf. Vasudeva nahm das Kind, legte es in einen Korb und trug es aus dem Kerker. Er verließ den Palast und eilte quer durch die Stadt hinunter zum Fluß Yamuna. Denn Gokula, wohin das Kind zu bringen Vishnu empfohlen hatte, liegt auf der anderen Seite des Flusses. Als Vasudeva sich den Fluten näherte, teilten sie sich und standen links und rechts wie Mauern. So konnte er das Flußbett trockenen Fußes durchschreiten. Er kam nach Gokula zum Haus der Yashoda, die fest schlief. Ihre soeben geborene Tochter Maya lag neben ihr. Vasudeva vertauschte die Kinder und eilte zurück zu seiner Frau in den Kerker. Als Kamsa wenig später in den Kerker kam, um das Neugeborene, von dem er nicht wußte, daß es vertauscht war, zu töten, wurde es ihm weggerissen und in den Himmel entrückt. Darauf erscholl eine Stimme:

„Der, der dich besiegen wird, lebt!“

Um das achte Kind der beiden Gefangenen doch noch zu beseitigen, schickte Kamsa seine Schwester, die Hexe Putana, durchs Land, alle Neugeborenen zu töten. Sie rieb sich ihre Brüste mit Gift ein und ging von Haus zu Haus, um sich den jungen Müttern als Säugamme anzubieten. Überall, wo sie hinkam, starben die Säuglinge. Als sie Gokula erreichte, fand sie Krishna allein vor – und säugte ihn. Aber die Heilsenergie des göttlichen Kindes war unendlich viel größer als Putanas Gift: Er saugte sie leer, so daß sie starb.

Soweit die Überlieferung von der Geburt und der Bewahrung des göttlichen Kindes Krishna. Für Hörer, die mit biblisch-christlichen Erzähltraditionen vertraut sind, scheint der Bericht von der Geburt Krishnas fremd und vertraut zugleich. Viele Einzelmotive sind aus biblischen Erzählungen vertraut: Der König, der sich durch das göttliche Kind bedroht sieht; die Geburt mitten in der Nacht; die Frau, die das Kind zur Welt bringt; sie ist einer Göttin gleich und wird zur Gottesgebärerin; das Kind wird in ein Körbchen gelegt, um es zu bewahren; Ketten fallen ab, Kerkertüren öffnen sich, Wächter fallen in Tiefschlaf; bedrohliche Fluten weichen zur Seite; unschuldige Kinder werden getötet, um die Menschwerdung Gottes rückgängig zu machen. Was bei der Geburtsgeschichte zu beobachten ist, gilt auch für den Vergleich anderer Krishna-Überlieferungen und Bräuche mit christlicher Religiostität: Neben erheblichen Unterschieden fallen je und je bekannte Motive ins Auge.

Im Braj, mit Zentrum im Wallfahrtsort Vrindavan, nur einige Kilometer nördlich von Mathura, verehrt man Krishna als Kind und jugendlichen Knaben. Als süßer kleiner Junge stiehlt er der Ziehmutter die Sahne, als fast Erwachsener Knabe hütet er die Kühe der Nachbarn und treibt dabei mit den Gopis, den Kuhhirtinnen – ganz jungen, frisch verheirateten Frauen seiner Dorfgenossen – erotische Spiele. Mit dem Ort Kurukschetra nördlich von Delhi ist die Verehrung des Krishna der Bhagavadgita [4] verbunden, jenes ethischen Beraters auf dem Kampfwagen des Kriegers Ardschuna. Ardschuna muß mit seinen Verwandten gegen andere Verwandte in die Schlacht ziehen und fragt danach, wie er angesichts dieses unlösbaren Widerspruchs recht handeln könne, worauf er vom menschgewordenen Gott belehrt wird. In Orissa dagegen verehrt man Krishna als König, materialisiert in einem Gnadenbild, einer Murti. Die Grundlinien der Überlieferung unterscheiden sich deutlich von den Jesus-Traditionen. Gleichwohl sind mache Ähnlichkeiten in der Verehrung nicht von der Hand zu weisen. In christlichen Kirchen verschiedener Konfessionen lassen sich, abhängig vom historischen und kulturellen Umfeld der Gläubigen, ebenfalls ganz unterschiedliche Aspekte beobachten, unter denen dem Sohn Gottes die Ehre erwiesen wird. Jesus kann vor allem als Kind verehrt werden – wie z. B. in der volkskirchlichen Weihnachtsfrömmigkeit unserer Tage oder im Bambino der Aracoelikirche auf dem römischen Kapitol [5]; er kann – wie in der mittelalterlichen Frauenmystik oder in Zinzendorfs Brüdergemeine – Kristalisationspunkt erotischer Sehnsüchte sein; er kann am Kreuz leiden oder ebendort als König triumphieren wie in gotischen oder romanischen Kreuzigungsdarstellungen; er kann als Allesbeherrscher in Kuppelmosaiken erscheinen – wie in Dafni bei Athen – oder den Dienst seiner Krieger für sich in Anspruch nehmen – wie in den Kreuzzügen oder in den nächtlichen Exerzitien des Ignatius von Loyola; er kann auch, wie im deutschen Kulturprotestantismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, bevorzugt als ethischer Lehrer vor Augen gestellt werden.

Mögen beim Vergleich der Verehrungsweisen der menschgewordenen Gottheit trotz mancher Ähnlichkeiten auch die Unterschiede bei weitem überwiegen, läßt sich doch ahnen, daß Menschen, die in der Krishna-Frömmigkeit aufgewachsen sind oder als Neubekehrte darin leben – ebenso wie Christen in ihrer Überlieferung – aus diesen Traditionen Stärkung, Trost und Orientierung für ihr Leben gewinnen und zu intensiver Gottesverehrung und tätiger Nächstenliebe fähig sein können. Dabei ist nicht auszuschließen, daß manche von ihnen u.U. auch zu Askese und Weltabkehr, vielleicht sogar zu Abgrenzung und Fanatismus neigen.

II.

Problemstellung und Aufgabe: In den letzten Jahrzehnten haben Kontaktmöglichkeiten und Berührungen zwischen Menschen verschiedener Kulturen und Religionen sprunghaft zugenommen. Kein Winkel der Erde bleibt mehr unbereist, keine Lebenswelt mehr unentdeckt. Bräuche und religiöse Vorstellungen werden dokumentiert und erforscht. Vieles Altüberlieferte geht unter infolge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, die sich oft im Zeichen von Coca-Cola und Blue Jeans vollziehen, oder durch Bildersturm und den Versuch der Ausrottung, wie wir es z.B. in Tibet erlebt haben und z.T. noch erleben. Manche Anregungen nichtchristlicher Religionen sind in unserem Kulturkreis aufgenommen worden. Angehörige anderer Religionen und Kulturen leben dauerhaft unter uns, z. T. in beträchtlicher Zahl. Die religiöse Landschaft vor der eigenen Haustür hat eine noch nie erreichte Vielfalt angenommen, und die Differenzierung geht weiter. Dennoch werden selbst grundlegende Überlieferungen anderer Religionen – wie die eben vorgetragene – von Außenstehenden kaum zur Kenntnis genommen. Das sollte zu Denken geben, sind doch mit solchen Überlieferungen Vorgänge verbunden, die tief ins Innere der Menschen hineinreichen und in Liedern, Gebeten und Riten ihren Ausdruck finden.

Diese Verankerung im tiefen Inneren der Menschen hängt damit zusammen, daß Religion im allgemeinen eine orientierende und integrierende Funktion hat [6]. Das gilt nicht nur für die christliche Religion und nicht nur für theistische Überlieferungen. Religion dient den Einzelnen dazu, sich zwischen Vergangenheit und Zukunft, Geborenwerden und Sterben, im Kontext von sozialen Beziehungen, Welt, Gesellschaft und staatlicher Ordnung zu deuten und sich einen Ort zu suchen, sich womöglich einzufügen [7]. Das ist keine leichte Aufgabe. Frühere Gesellschaften waren einförmiger und gleichbleibender als die unsere. Durch feste Sitten oder den Zwang von Gesetzen schrieben sie ihren Mitgliedern vor, welche religio gelten sollte, nach welcher Dogmatik und welchen Riten sie sich zu integrieren hatten. Das geschah zum Beispiel unter der Parole „Cuius regio, eius religio“, die zweieinhalb Jahrhunderte lang in Europa galt. Heute steht in unserer Kultur jede und jeder Einzelne vor der Aufgabe, Orstbestimmung und Integration individuell zu leisten. Die Lehren und Riten, nach denen das geschieht, müssen aus einem reichen Angebot ausgewählt werden. Religion ist kaum mehr mit einem Zwang durch Obrigkeit oder durch Brauchtum, sondern mit dem Zwang zur Auswahl verbunden. Darauf muß Kirche sich mehr und mehr einstellen. Sie ist in Sachen Religion nicht mehr Alleinanbieterin mit Monopolstellung, sondern eine unter vielen geworden. Die Frage nach der Zukunft des Christentums als gesellschaftlicher Größe stellt sich als Frage danach, wie Kirche auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten auftritt.

Das Religion eine orientierende und integrierende Funktion entfaltet, geschieht in einem komplizierten Prozeß, der Desorientierung und Desintegration nicht ausschließt. Der Kontext von sozialen Beziehungen, Welt und Gesellschaft, in dem Menschen sich orientieren müssen, ist ihnen einerseits vorgegeben; er wird aber andererseits in seiner konkreten Gestalt von Menschen hervorgebracht und von den Betroffenen selbst mitgeformt. Gleichwohl wird er in der Regel als fremd, bedrohlich und weitgehend unbeeinflußbar erlebt. Funktion von Religion ist es, durch Riten und Belehrung die Menschen mit den Zusammenhängen auszusöhnen, in denen sie existieren. Eine zentrale Bedeutung haben dabei lebensbegleitende Riten im Zusammenhang von Geburt, Erwachsenwerden, Heirat, und Tod. Religion befähigt dazu, zu ordnen, sie stiftet Sinn, hilft Krisen durchleben, stabilisiert Gefühle und motiviert zum Handeln. Das kann auch so geschehen, daß sie bei Menschen die Bereitschaft weckt, sich von der Welt loszusagen [8] oder aus ihr zu scheiden. Religion integriert Einzelne in größere Zusammenhänge, aber nicht unbedingt im Ausgleich mit den Mitmenschen. Religion kann auch zerstörerische Kräfte verstärken und zum Ausbruch bringen. Die integrative Funktion von Religion kann mit ihrem Gegenteil einhergehen, Desintegration hervorbringen. Die Geschichte des Christentums bietet hierfür viele Beispiele, ich nenne als ein markantes jenen Prozeß, in dem sich die abendländische Christenheit vor 900 Jahren unter der geistlichen Führung des Papsttums zum Kreuzzug zusammenschloß. Die andere Seite dieser Integration des lateinischen Westens nach innen war die Aggression nach außen, gegen Muslime, Juden, Orthodoxe.

Nichtchristliche Religionen werden in unserer Kultur vor allem unter drei Gesichtspunkten zur Kenntnis genommen werden:

  1. Sie sind durch Zuwanderung so stark vertreten, daß sie nicht mehr ignoriert werden können, etwa wenn sie ein Kultgebäude errichten wollen, daß vielleicht durch ein Minarett von außen als solches erkennbar ist.
  2. Sie machen irgendwo auf der Welt durch spektakuläre militärisch-politische Aktionen auf sich aufmerksam, die durch die Medien gehen. Dann taucht in der Regel die ebenso richtige wie nichtssagende Mitteilung auf, es handle sich um radikale Fundamentalisten.
  3. Sie treiben unter uns Mission – in traditioneller Ausprägung oder als „neue religiöse Bewegungen“. Die Großkirchen reagieren darauf gewöhnlich durch ihre Weltanschauungs- oder Sektenbeauftragten, die sich als eine Art religiöse Verbraucherberatung anbieten und öffentlich vor allem vor Scharlatanerie und Verführung warnen, was bisweilen auch nötig ist. Nur selten lassen sich aber neben Warnungen auch Ansätze zu konstruktivem Dialog beobachten.

Da sich mit religiösem Denken, Fühlen und Handeln immer wieder enorme politische und soziale Energien verbinden [9], sollte das Verhältnis zu anderen Religionen in höherem Maße als bisher zum Gegenstand theologischer Reflexion und zum Bestandteil theologischer Ausbildung gemacht werden. Pfarrerinnen und Pfarrer der großen Kirchen haben in unserer Kultur seit Jahrhunderten die öffentliche Aufgabe übertragen bekommen, bei der Gestaltung des religiösen Lebens maßgeblich mitzuwirken. Die Religionsgesellschaften haben den in der Verfassung garantierten Status von Körperschaften öffentlichen Rechts. Die ererbten volkskirchlichen Strukturen mit ihrem besonderen rechtlichen Status sollten von den Kirchen schon aus gesellschaftlicher Verantwortung heraus bewußt gepflegt und dazu genutzt werden, eine Atmosphäre des irenischen Dialogs zwischen den Religionen zu schaffen, einschließlich der neuen religiösen Bewegungen. Pastorinnen und Pastoren sollten durch ihre Ausbildung in die Lage versetzt werden, in einen solchen irenischen Dialog einzutreten.

Es gibt historische Vorbilder solcher Annäherung: Zwischen den christlichen Konfessionen in Europa können wir einen Lernprozeß durch Jahrhunderte hindurch beobachten. Er begann, als das erwähnte „Cuius regio, eius religio“ noch Reichsgesetz war und in vielen Territorien die konfessionelle Geschlossenheit als politisches Ziel galt. Es war besonders in der Geschichte der Deutschen ein langer und mühsamer Weg, daß erst Lutheraner und Reformierte, dann auch Protestanten und Katholiken und schließlich sogar Christen und Juden lernten, in einem Staatswesen zusammenzuleben, ohne daß die je schwächere Gruppe von vornherein vom Genuß bestimmter Rechte ausgeschlossen wurde. Die Kultur des friedlichen Neben- und Miteinanders ist aber stets gefährdet. Sie konnte in den Krisenzeiten nach 1929 binnen weniger Jahre beseitigt werden.

Historische Theologie kann zum irenischen Neben- und Miteinander einen Beitrag leisten. Sie kann das tun einerseits in ihrer historischen, andererseits in ihrer theologischen Funktion. Von beiden Funktioen soll anschließend die Rede sein, um danach auf die Bedeutung beider Funktionen für das Gespräch mit anderen Religionen einzugehen. Wir wenden uns zuerst der historischen Funktion zu.

III.

Historische Theologie nach ihrer historischen Funktion: Kirchengeschichte ist nach ihrer historischen Seite Religionsgeschichte des Christentums. Sie unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderer Religionsgeschichtsschreibung, etwa des Islam oder des Hinduismus. Sie erforscht und stellt die Geschichte der sichtbaren christlichen Kirchen, ihrer Lehren, Personen, Bewegungen und Institutionen dar. Sie beschäftigt sich mit ihren vielfältigen Riten und Frömmigkeitformen. Sie widmet sich den religiösen Bewegungen, die innerhalb oder außerhalb der kirchlichen Institutionen wirkten, z.T. von den Großkirchen separiert oder in Opposition zu ihnen. Sie hebt Stärken hervor, deckt Schwächen auf, nennt Irrtümer, verschweigt nicht Fehlentwicklungen und Katastrophen. Sie erinnert die kirchliche Gegenwart an vergangene, oft auch vergessene Realisierungen und Entwürfe christlichen Glaubens, Denkens, Lebens und Handelns, an gelungene und mißlungene gleichermaßen.

Historische Theologie soll die vergangenen Zusammenhänge von Glauben und Leben je und je wieder vor Augen zu stellen. Sie soll dem im Nachhinein ungeschichtlich-abstrakt erscheinenden theologischen Denken derjenigen, die vor uns waren, die historische Dimension zurückgeben und die einstige Brisanz wenigsten ahnen lasssen, indem sie die vergangenen Lebensverhältnis in Erinnung bringt, in denen geglaubt, gezweifelt und theologisch gedacht wurde. Als die Geschichte der theologischen Denktraditionen (Theologiegeschichte) allein ist das kaum zu leisten. Neben Personen und Denktraditionen müssen Institutionen, materielle Gegebenheiten, soziale Prozesse und, wenn möglich, auch die mehr oder weniger fromme Psyche früherer Menschen in den Blick genommen werden. Dazu ist interdisziplinäres Vorgehen unerläßlich, innerhalb der theologischen Disziplinen und über die Grenzen der Theologie hinaus.

Historische Theologie führt bisweilen auch Überraschendes vor Augen: Religiöse Schauspiele unter Beteiligung der Bevölkerung einer ganzen Stadt; extensive Ostertänze in mittelalterlichen Kollegiatskirchen, so daß die Bischöfe mißtrauisch wurden; ekstatische Verzückung asketischer pietistischer Gemeinschaften bei der Feier des Abendmahls, in denen das Herrenmahl als körperliche Vereinigung des himmlischen Bräutigams mit der erwählten Braut erlebt und als Ineinanderfließen der Säfte beschrieben wurde. Dabei handelt es sich um geschichtlich gewordene Formen christlichen Kultes. Was davon als Anregung für die religiöse Praxis der Gegenwart dienen kann, darf überlegt werden. Haben religiöse Schauspiele der Vergangenheit etwas mit Bibliodrama gemeinsam? Darf in Sakralräumen ekstatisch getanzt werden? Wie steht es mit religiöser Erotik? Historische Theologie leistet ihre Erinnerungsarbeit im Hinblick darauf, daß Kirche heute verantwortlich gestaltet und geleitet werden muß [10]. Dabei gibt sie die Hoffnung nicht auf, daß Menschen aus der Geschichte lernen können.

IV.

Historische Theologie nach ihrer theologischen Funktion: Aufgabe der Kirchengeschichte in theologischer Hinsicht ist es, stets auch zu erinnern an die prinzipielle historische Beschränktheit jeder Lehr- und Bekenntnisformulierung, jeder Form geistlichen Lebens und des Kultes, jeder Kirchenverfassung, auch jeder kirchlichen Alternativbewegung – und was dergleichen Gegenstände ihres Forschens sind. Sie hat eine kritische Funktion gegenüber jeder historischen Erscheinung von Kirche und führt vor, daß überall Menschen handeln. Das soll sie freilich stets in dem Bewußtsein tun, daß sie selbst dieser Beschränkung unterliegt und ihr dasselbe widerfahren wird. Sie wird selbst kritisiert und als Geschichtsschreibung in ihrer Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit vorgeführt werden. Historische Theologie soll nicht der Apologie einer historischen Größe dienen, sondern daran erinnern, daß die wahre Kirche nicht von Menschen, sondern von Gott erbaut und erhalten wird. Wahre Kirche ist Gegenstand des Glaubens und Bekennens.

Inwieweit kann Historische Theologie das Wirken des Heiligen Geistes zur Sprache bringen? Sie kann das insofern, als sie unter all den kritisch zu behandelnden Erscheinungsformen menschlich-religiösen Tuns auf Zusammenhänge hinweist, in denen der voraussetzungslose Zuspruch des Evangeliums – Gottes bedingungloses Ja zu den Menschen, das auch im Ja der Menschen zueinander erscheinen kann – zum Ausdruck kommt – etwa in der schriftgemäßen Verkündigung, im Spenden der Sakramente oder in der tätigen Nächstenliebe. Aber die Wirkung des Hl. Geistes in der Geschichte kann als solche nicht Gegenstand einer historischen Belegführung sein.

Historische Theologie hat die Funktion, das Bewußtsein dafür wach zu halten, was Karl Barth „als göttliches Urteil über alles Menschliche“ bezeichnet hat. Es gibt kein menschliches Handeln in der Geschichte, das vor Gott bestehen könnte. Deshalb spricht Barth davon, daß nicht nur „die Welt der Götter Griechenlands oder Indiens oder die Welt der Weisheit Chinas oder auch die Welt des römischen Katholizismus“ diesem Urteil unterworfen sei. Sondern es wird „auch unsere eigene protestantische Glaubenswelt als solche in dem umfassenden Sinn jenes göttlichen Urteils wirklich preisgegeben“[11]. Der Gedanke aus Lied 327 Vers 8 im Evangelischen Kirchengesangbuch trifft auch auf alle Theologie und auf jede sichtbare Gestalt der Kirche zu: „Ach wie nichtig, ach wie flüchtig, sind der Menschen Sachen! Alles, alles, was wir sehen, das muß fallen und vergehen.“ Es bleibt allein Raum für die Verheißung: „Wer Gott fürcht‘, wird ewig stehen.“

Damit sind wir beim reformatorischen Rechtfertigungsdenken angelangt: Gott allein handelt. Die Menschen erreichen das Ziel nicht, weder als Einzelne, noch als Gattung. Das wird im Begriff Sünde zur Sprache gebracht, als prinzipielle Trennung der Menschen von Gott, vom eigentlichen Sein und Wesen, das nicht in uns und nicht historisch vor uns liegt. Wir bekommen unsere Vollkommenheit durch Zuwendung von außen – extra nos -, oder wir bekommen sie nicht. Die Rezeption des bei Paulus entfalteten Verhältnisses von Gesetz und Evangelium durch Luther und durch viele andere Reformatoren ist – trotz mancher Variationen, die wir im einzelnen feststellen – zentraler Bezugspunkt evanglischer Historischer Theologie. Dabei ist daran zu erinnern, daß das Evangelium das Gesetz nicht aufhebt [12]. Es ist von Gott zum Wohl der Menschen gestiftet und soll zum irdischen Leben dienen. Es gilt weiter und soll erfüllt werden. Das Evangelium ist eine daneben gestellte, ganz andere Größe. Es besagt, daß Erfüllung oder Nichterfüllung des Gesetzes letztendlich nicht über den Menschen entscheidet. Hierin sehe ich den Kernpunkt, um den evangelische Theologie mit anderen Ansätzen christlicher und nichtchristlicher Theologie streiten soll.

V.

Begegnung zwischen ähnlich strukturierten Größen: Welchen Beitrag kann Historische Theologie aufgrund ihrer eben beschriebenen Aufgabenstellung zum Gespräch mit anderen Religionen leisten? Es kann hier lediglich darum gehen, einige Eckpunkte zu markieren. Außerdem soll skizziert werden, welche Chancen sich für Historische Theologie ergeben, wenn sie andere Religionen bei ihrer Arbeit mit in Betracht zieht:

  1. Das Christentum, von dem wir glauben und bekennen, daß in ihm Gottes Offenbarung enthalten sei, ist als geschichtliche Erscheinung stets Religion [13]. Es stellt in dieser Hinsicht keine prinzipiell andere Größe dar als andere Religionen. In theologischer Hinsicht steht es mit ihnen unter dem Vorbehalt Gottes gegenüber allen menschlichen Lebensäußerungen und gegenüber der Geschichte.
  2. Es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß auch in anderen Religionen etwas vom Licht göttlicher Wahrheit zu finden ist. Nach biblischem Zeugnis und reformatorischer Lehre ist auch Menschen, die Christus nicht kennen, das Gesetz ins Herz geschrieben. Es ist also damit rechnen, daß auch sie ernsthaft nach Gotteserkenntnis streben und daß Gottesliebe und Nächstenliebe auch in anderen Religionen praktiziert werden.
  3. Daraus, daß in Christus alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis gegeben sind, und daß niemand zum Vater kommt, es sei denn, durch ihn [14], folgt nicht, daß Gott anderen nicht auf andere Weise den Weg bereitet haben kann. Es sei daran erinnert, daß z.B. Calvin davon ausgeht, daß bis zum Jüngsten Tag noch eine Anzahl Mysterien verhüllt bleiben werde. Dazu rechnet er die Möglichkeit einer Herrschaft Christi etiam extra ecclesiam, verbunden mit der Gabe seiner Gemeinschaft etiam extra coenam, von Gottes Regiment etiam extra lege [15].
  4. Katholischerseits äußerte sich das 2. Vatikanum in der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ zu der angeschnittenen Frage mit abwägender Vorsicht, aber doch klar. Dort heißt es – mit besonderem Blick auf Hinduismus und Buddhismus: „Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie (die Kirche, MB.) jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie (die Kirche, MB.) selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“ Im Anschluß daran ist davon die Rede, daß die Kirche ihrerseits die Offenbarung in Christus zur Sprache bringt [16].

Dabei ist festzuhalten: Es geht nicht darum, in den Schriften und Riten der anderen die Wahrheit für uns zu suchen. Es geht darum, mit welcher Annahme wir ihnen begegnen. Schließen wir aus, daß sie einen Strahl vom Licht der Wahrheit haben, oder rechnen wir damit? Halten wird Regentschaft Christi etiam extra ecclesiam, Gemeinschaft mit Christus etiam extra coenam für einen möglichen Weg Gottes, über den wir, auch wenn er uns nicht gewiesen ist, nicht ausschließend zu befinden haben?

Soviel zu den Voraussetzungen für das Gespräch mit anderen Relgionen. Die folgenden Punkte beziehen sich auf das Gespräch selbst.

  1. Bei einer Begegnung des Christentums mit anderen Religionen treffen ähnliche geschichtliche Phänomene aufeinander. Es bestehen also Anknüpfungspunkte – und es sind Vergleiche möglich.
  2. Wie weit die Ähnlichkeit geht, kann ausgelotete werden. Das sollte auf struktureller Ebene ebenso geschehen wie auf dogmatischer. Es dürfte aber wenig sinnvoll sein, mit der Feststellung der Lehrdifferenzen zu beginnen. Jedenfalls setzt die gegenseitige Erkundung Achtung und Verständnis gegenüber der je fremden religiösen Haltung voraus. Verzicht auf Standpunkte wird nicht gefordert, der eigene Standpunkt soll vielmehr vertreten und erklärt werden.
  3. Für weiterreichende strukturelle Vergleiche gilt: Andere Religionen haben ähnliche organisatorische Aufgaben zu lösen wie Christen der verschiedenen Konfessionen. Sie stehen vor dem Problem, Kult und Seelsorge zu begründen, zu ordnen und Inhalte weiterzuvermitteln. Sie richten Seelsorgebezirke ein oder bilden Personalgemeinden mit Hirtinnen und Hirten, mit Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern. Sie praktizieren lebensbegleitende Riten, kennen sakramentale Akte, Gebete, Wallfahrten. Sie entwickeln kommunitäre Lebensformen und Orden. Wie im Christentum, lehnen auch in anderen Religionen einige Richtungen den Gebrauch von Bildern entschieden ab, andere treten leidenschaftlich dafür ein.
  4. Aus der Beschäftigung und aus dem Kontakt mit anderen Religionen lassen sich Anregungen gewinnen für das Studium der eigenen Religionsgeschichte.

Das sei am Beispiel verdeutlicht: In Hindutempeln, auch im großen Heiligtum über dem Geburtskerker in Mathura, fällt die hohe Bedeutung auf, die der Schau des Heiligen zukommt. Der Priester vollzieht lange Zeit hinter dem Vorhang den Kult, bedient die Gottheit, fächelt ihr Luft zu, badet, kleidet und speist sie. Auf ein Glockenzeichen wird der Vorhang geöffnet, dazu ertönen Gesang, Handpauken und das Spiel von Instrumenten. Die Menschen strömen herbei, um das Gnadenbild zu schauen. Bei großen Festen warten Zigtausende stundenlang am Heiligtum, bis sie vorgelassen werden, um die Präsenz des Heiligen mit den Augen zu erfassen.

Hier bestehen Parallelen zur Reliquienausstellung und zur Schau der gewandelten Hostie in der Elevation während der Messe – weniger in der Gegenwart, als in mittelalterlicher Praxis. Heute pflegen katholische Christen auf das Glockensignal des Meßdieners demütig kniend auf den Boden zu schauen. Im Mittelalter war die Reaktion genau umgekehrt: Es wurde aufgeschaut, um den Leib des Herrn zu sehen und quasi mit den Augen Kommunion zu halten. Aus den Unterweisungen der Freigeister, einer kleinen mittelalterlichen Ketzergruppe, wissen wir, daß sie sich bemühten, ihren neugewonnenen Mitgliedern das Bedürfnis, den Leib des Herrn zu schauen, in einem jahrelangen Umerziehungsprozeß abzutrainieren [17]. An manchen Kirchen und Kapellen haben sich bis heute Hagioskope erhalten: Sichtöffnungen in der Kirchenmauer [18] oder im Lettner [19] für Menschen, die von der unmittelbaren Teilnahme an der Messe ausgeschlossen waren. Mittelalterliche Inquisitionsprotokolle [20] berichten von der tiefen Verletzung, die Menschen in Südfrankreich empfanden, weil sie als Zehntverweigerer auf Anordnung ihres Bischofs vom Gottesdienst ausgeschlossen worden waren. Sie litten – für uns: erstaunlicherweise – vor allem daran, daß sie die Hostie nicht sehen konnten. Der Klerus sperrte die Kirchentüren zu, um seinen unbotmäßigen Schafen die Schau des Heiligen zu verwehren. Einer der Betroffenen sagte, die Kirchen sollten doch niedergerissen und die Altäre besser auf dem Feld errichtet werden. Dann könnte jeder das von Gott gegebene Heil schauen. Wir haben es hier mit einer auf materielle Sichtbarkeit des Heils ausgerichteten Augenreligiosität zu tun, die – unabhängig von den dogmatischen Ausprägungen – auch in anderen kulturellen Zusammenhängen anzutreffen ist, unserer mehr auf Hören ausgerichteten Kultur aber (zunächst) fremd erscheint.

  1. Beschäftigung der Religionen miteinander ist notwendig, weil Unkenntnis Raum für Vorurteile schafft. So hält sich zB. seit weit über hundert Jahren unter Christen das Vorurteil, eine aus Gottesliebe erwachsende Nächstenliebe sei ein Spezifikum, das sich nur in der eigenen Religion findet. Johann Hinrich Wichern hat diese Auffassung zB. in seinem Gutachten zur Monbijou-Konferenz von 1856 im Einleitungssatz klassisch formuliert [21]. Aber diese Auffassung ist mit wichtigen Lehrtradtitionen z.B. der Hindus nicht vereinbar. Klaus K. Klostermaier hat herausgestellt, daß ihnen tätige Nächstenliebe im gegenwärtigen Zeitalter, dem Kalijuga, als die angemessene Form der Religionsausübung gilt [22].
  2. Im interreligiösen Gespräch ist auf Analogien darin zu achten, wie Menschen existentielles Betroffensein wahrnehmen und zum Ausdruck bringen. Wolfgang Philipp, der einen großen Teil seiner Forschungen der theologischen Irenik gewidmet hat, geht in seiner „Prolegomena zu einer vergleichenden Religionsgeschichte“ von drei Strukturtypen aus, die üblicherweise nicht rein, sondern in spezifischer Gewichtung nach der einen oder anderen Spitze eines Dreiecks auftreten. Er unterscheidet Ich-, Du- und Es-Struktur. Ich-Struktur ist nach innen gewandt, am Selbst orientiert. Du-Struktur ist auf interpersonale Beziehung aus und auf ein Ziel orientiert. Es-Struktur stellt objektive, überindividuelle Seins-Gegebenheiten in den Mittelpunkt. Die Beschreibung dieser drei Strukturen dient Philipps Worten zufolge der Rationalisierung und Objektivierung der Motive und Gesetze, nach denen nicht nur die Konfessionen der Christenheit, sondern auch Weltreligionen, Philospheme, Ideologien, Politsysteme zum Kampf gegeneinander antreten. Seine Kategorienbildung versteht er als strukturanalytisches und ideologiekritisches Verfahren, das es erlaubt, die Phänomene aus transkategorialer Distanz zu beobachten. Hieraus lassen sich Anregungen für die Arbeit der Historischen Theologie und für das interreligiöse Gespräch gewinnen [23].
  3. Gleichwohl sollte nicht nur transkategorial verglichen werden. Auch dogmatische Vergleiche zwischen den Religionen können unternommen werden [24]: Historische Theologie kann z.B. die Frage nach der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade auch an andere Religionen herantragen. Es kann untersucht werden, ob in ihren Riten, Lehren und theologischen Entwürfen nicht auch von einer voraussetzungslosen Zusage Gottes die Rede ist.
  4. Allerdings ergeben sich hier erhebliche methodische Probleme. Es wird nötig, sich auf fremde Weltbilder, Denk- und Argumentationsmuster einzulassen und zu fragen, ob und wie unter diesen ganz anderen Vorgaben wirklich ähnliche oder gleiche Gedanken formuliert werden können bzw. formuliert worden sind.

Ein Vorgehen, daß auf fremde Voraussetzungen eingeht, empfiehlt auch die bereits zitierte Erklärung des 2. Vatikanums „über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“. Dort ist zunächst vom Strahl aus dem Licht göttlicher Wahrheit die Rede, mit dem auch bei Nichtchristen gerechnet werden müsse [25]. Etwas weiter unten heißt es, die Kirche mahne ihre Söhne – die Töchter sind wohl auch gemeint -, „. daß sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr (eigenes; M.B.) Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen (den anderen Religionen; M.B.) finden, anerkennen, wahren und fördern“.

Die Konzilsväter wünschen also, daß christliche Brüder und Schwestern mit ihrem Glaubenszeugnis nicht nur die sozial-kulturellen Werte, sondern auch die sittlichen und die geistlichen Güter der anderen Religionen anerkennen, wahren und fördern! Wenn das geschieht, ist irenischer Dialog Wirklichkeit geworden. Geschichten wie die von der Geburt und Bewahrung des Krishna-Kindes werden dann unter Christen eine ganz selbstverständliche Beachtung gefunden haben, neben der für sie zentralen Weihnachtsüberlieferung der ‚Evangelisten.

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*Leicht überarbeitete Fassung des Beitrags vom 23. 1.1996 zur Ringvorlesung „Zukunft des Christentums“ an der Kirchlichen Hochschule Bethel.

Anmerkungen

[1] Die Bezeichnungen Kirchengeschichte und Historische Theologie gebrauche ich im folgenden synonym. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des Theologischen Studiums von 1804/05, kritische Ausgabe, hrsg. von Heinrich Scholz (Darmstadt 1982) 58-73, wo im zweiten Teil, zweiter Abschnitt, §§ 149-194, „Die historische Theologie im engeren Sinne oder die Kirchengeschichte“ erörtert wird.

[2] Die Gründe dafür liegen in meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Frankfurt am Main. Seit Mitte der achtziger Jahre entstanden über das Institut für Wissenschaftliche Irenik am Fachbereich Evangelische Theologie Kontakte zu nordindischen Christen und zu Priestern der Krishna-Verehrung in Vrindavan. Die Begegnung mit östlichen Reinkarnationslehren erwies sich bei meinen Katharerstudien als sehr anregend.

[3] Das liebliche Krishna-Kind. In: Die Erzählungen von Visnu. Indische Mythen und Legenden aus dem Bhagavata Purana und Überlieferungen aus Tamilnadu und Orissa, herausgegeben und aus dem Englischen übertragen und kommentiert von Lydia Icke-Schwalbe (Leipzig und Weimar 1989) 84.

[4] Baghavadgita. Das Lied der Gottheit. Aus dem Sanskrit übersetzt von Robert Boxberger. Neu bearbeitet und herausgegeben von Helmuth von Glasenapp (Stuttgart 1984)

[5] Vgl. z. B. auch das Gnadenbild aus Maria im Pesch im Nordquerhaus des Kölner Domes.

[6] Vgl. zum Folgenden Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft (Freiburg i. B. 1963).

[7] 2. Vatikanum, Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), 2. Aufl. Bd. 13, 489: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“

[8] Hochverbindliche Lebensformen religiöser Gemeinschaften haben hier eine Wurzel.

[9] Die Betheler Anstalten sind ein positives Beispiel solcher Verbindung.

[10] Vgl. die Aufgabenbestimmung der Historischen Theologie bei Schleiermacher (wie Anm. 1).

[11] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik II, 327 f.

[12] Gemeint ist mit Gesetz nicht die Thora, sondern die Fülle religiöser und philosophischer Lebensregeln sowie ihrer Kommentierungen, die gelten sollen im Sinne des Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe, das die Summe des Gesetzes formuliert.

[13] Das gilt trotz Karl Barths Einwand, Religion sei Unglaube. Barth geht vom prinzipiellen Gegensatz von Offenbarung und Religion aus: „… nicht…, daß der Mensch … mit Gottes Offenbarung harmonisch zusammenwirke, daß Religion etwa die ausgestreckte Hand sei, die dann von Gott in seiner Offenbarung gefüllt werde. … in der Religion wehrt und verschließt sich der Mensch gegen die Offenbarung dadurch, daß er sich einen Ersatz beschafft, daß er sich vorwegnimmt, was ihm in ihr von Gott gegeben werden soll…“ (Kirchliche Dogmatik I, 2, 330 f.)

[14] Mit Kol 2,3 und Joh 14, 6

[15] Corpus Reformatorum 30, 156, nach Willem Nijenhuis: Calvin, in Theologische Realenzykopädie (TRE) Bd. 7. 583. Auch Zwingli geht davon aus, daß alle Gottes- und Wahrheitserkenntnis durch den Heiligen Geist vermittelt wird, dieser dabei aber nicht an die Heilsgeschichte im engeren Sinne gebunden ist. Vgl. W.-D. Hauschild: Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben IV, TRE 12, 211. Selbst Bileams Esel gehorchte ja bekanntlich dem Geist Gottes.

[16] Wie Anm. 7.

[17] Vgl. Matthias Benad: „Alles, was das Auge sieht unde begehrt, soll die Hand befolgen. Zentrale Motive freigeistiger Religiosität nach der Confessio des Johannes von Brünn (um 1335), in: A. Mehl/W.C. Schneider (Hrsg.): Festschrift Lothar Graf zu Dohna (Darmstadt 1989) 75-96.

[18] Vgl. St. Martin in Canterbury oder die Pfarrkirche von Granhult im Süden Smålands, Schweden. Zu Granhult vgl. Martin Ullén, Holzkirchen im mittelalterlichen Stift Växjö, in: Claus Ahrens: Frühe Holzkirchen im nördlichen Europa, Austellungskatalog (Hamburg 1982) 321-342, Abb. 8 S. 329.

[19] In der Marienkirche in Gelnhausen hat sich im Lettneraltar eine Schiebevorrichtung aus dem späten 15. Jahrhundert erhalten, die es den Gemeindegliedern erlaubte, bei geöffnetem Zustand die Elevation zu beobachten, wenn hinter dem Lettner am Choraltar von den Prämonstratenserchorherren aus Selbold die Messe zelebriert wurde.

[20] Vgl. Jean Duvernoy (Hrsg.): Le registre d‘ inquisition de Jacques Fournier èveque de Pamiers (1318-1325), 3 Bde, Toulouse 1965, Corrections 1972, Bd. II 313 ff.

[21] Johann Hinrich Wichern: Gutachten betreffend die Diakonie und den Diakonat, in: Aktenstücke aus der Verwaltung des Evanglischen Oberkirchenraths Bd. 3 (Berlin 1856), 127-197.

[22] Vgl. Klaus K. Klostermaier: Charity in Hinduism, in: Matthias Benad/Edmund Weber (Hrsg.), Diakonie der Religionen 1, THEION VII, Jahrbuch für Religionskultur (Frankfurt am Main u.a. 1996) 111-118.

[23] Vgl. Wolfgang Philipp: Trinität ist unser Sein. Prolegomena zu einer vergleichenden Religionsgeschichte, STUDIA IRENICA 26, (Hildesheim 1983) – Übrigens gibt es Parallelen zur Unterscheidung von Mystik, Sekte und Kirche als wirksamen Kräften der Kirchengeschichte Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der Christlichen Kirchen und Gruppen (3. Aufl. Tübingen 1922, Reprint Aalen 1977), 967ff.

[24] Derartiges Vorgehen. z.B. bei Edmund Weber: Freie Liebe und bhakti. Zur Konvergenz der Gottesliebe Martin Luthers und Krsna Caitanyas, in: Hans Christoph Stoodt/Edmund Weber (Hrsg.), Interreligiöse Beziehungen. Konflikte und Konvergenzen, THEION II, Jahrbuch für Religionskultur (Frankfurt am Main 1993) 155-167.

[25] Vgl. oben Anm. 7

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