Nr. 244 (2019)

Analyse der Sprecherdimensionen im Koran
Das takfīr-Problem
Wer darf wen mit welcher Legitimation einen Ungläubigen nennen?

Nr. 244 (2019)

Von Ahmet Inam

Im ersten Artikel dieser Serie (Nr. 241) wurde anhand eines im Koran erwähnten historischen Beispiels zum Thema „Sündenübertragung“ dargelegt, dass die Mehrheit der muslimischen Gelehrten dem von Gott in direkter Rede offenbarten Vers größere Beachtung schenkten als einem Analogieschluss aus dem Vergleich verschiedener Koranverse.

Dabei zeigte sich allerdings, dass die klassischen und zeitgenössischen Exegeten die Unterscheidung zwischen

den Sprecherdimensionen, d. h. zwischen den direkten Aussagen Gottes und den Aussagen der im Koran von Gott zitierten Personen, nicht hinreichend und konsequent vollzogen haben. Wären diese kategorialen Unterscheidungen vorgenommen worden, hätten sich die zahlreichen, manchmal hilflos anmutenden Versuche, das Thema zu erklären, weitgehend erübrigt. Dann hätte sich die normative Rede Gottes in ihrer Autorität, Authentizität und Klarheit stärker und direkter mitgeteilt.

In diesem zweiten Artikel der Serie „Analyse der Sprecherdimension“ wird die takfīr-Thematik behandelt, die sowohl historisch-innermuslimisch als auch kulturübergreifend von aktueller Bedeutung ist. Anhand dieses Themas soll aus der koranischen Perspektive verdeutlicht werden, dass die takfīr-Praxis bei Beachtung der unterschiedlichen Sprecherdimensionen im Koran in einem ganz anderen, problematischen Licht erscheint –was den Umgang nicht nur zwischen Muslimen, sondern auch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen betrifft. Letzteres betrifft besonders einige radikale Kreise, in denen auch Nichtmuslime als Ungläubige bezeichnet werden, was nicht selten als eine Schmähung gemeint ist, jedoch nicht nur dem Sinn entsprechender koranischer Äußerungen, sondern zugleich der vorbildhaften Lebensweise (sunna) des Propheten widerspricht.

Die Methode der kategorialen Unterscheidung der Sprecherdimensionen wird in den folgenden Überlegungen auf die Adressierung des koranischen Terminus kāfirūn („Ungläubige“) und seiner Derivate (und zum Teil des Terminus mušrikūn,

„Polytheisten“) angewendet, also auf die Anrede der Nichtmuslime als Ungläubige. Auch hierbei geht es um die fundamentale Differenzierung zwischen der unmittelbaren autoritativen Rede Gottes und den von Gott nur zitierten, auf Nichtmuslime bezogenen Bezeichnungen der Propheten. Die Leitfrage dieses Artikels lautet: Wer ist wie legitimiert, Muslime oder Menschen anderen Glaubens als kāfirūn zu bezeichnen?

Methodisch werden wir nach der im Koran ansatzweise vorhandenen Chronologie der Prophetengeschichten vorgehen, dabei jedoch nicht alle Prophetengeschichten unter die Lupe nehmen, weil die Verwendung des Nomens „Ungläubige“ nicht in allen Geschichten vorkommt. Dieser Artikel soll verdeutlichen, dass die Propheten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgabe, die göttliche Botschaft zu verkünden, die Sünde des Unglaubens und der Beigesellung (širk) entschieden ablehnten und verurteilten, den Unglauben tadelten, die Ungläubigen weiterhin kritisierten – also die sündhaften Handlungen anprangerten –, aber dabei nicht in die Rhetorik der Schmähung verfielen. Mit der determinierenden Titulierung sogar der

Nichtmuslime als „Ungläubige“ kamen sie Gott nicht zuvor, der im Islam einzig und allein die Autorität besitzt, ein solches schicksalhaftes Urteil zu treffen. Sie haben, mit anderen Worten, nicht wie die Ḫāriǧīten sich unbewusst der Artikulation Gottes bedient und dabei selbst autoritativ gehandelt, sondern sich an das gehalten, was Gott ihnen explizit befohlen hatte (16:125): „Ruf (die Menschen) mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn und streite mit ihnen auf eine möglichst gute Art (oder: auf eine bessere Art [als sie das mit dir tun]). Dein Herr weiß sehr wohl, wer von seinem Weg abirrt, und wer rechtgeleitet ist.“

Die Anredeformen in den Koranwissenschaften (ʿulūm al-qurān)

Die persönliche Anrede ist eine ambivalente kommunikative Handlung. Ihrer Form nach ist sie ein Sprechangebot an das Gegenüber. A sagt zu B „du“ und bezieht ihn in eine sprachliche Interaktion ein, B wird damit als Kommunikationspartner anerkannt und hat – wenigstens dem inneren Sinn eines Gesprächs nach – die Möglichkeit, darauf zu antworten, d. h. zuzustimmen oder das Gesagte abzulehnen. Gegenüber diesem idealtypischen Zustand – den Habermas herrschaftsfreien Diskurs nennt – der ebenmäßigen Anerkennung des anderen als Gesprächspartner und der gleichen Chancen, am Gespräch teilzunehmen, entscheidet in der Realität die empirische Sprechsituation darüber, in welchem Ausmaß diese Regeln eingehalten werden. Autorität, Macht, Status und Interessen greifen normalerweise in den kommunikativen Prozess ein und verschieben das Gleichgewicht der Chancen. Hier zeigt sich die ambivalente Kehrseite der persönlichen Anrede, sie kann in ihrer konfrontativen Form ein Medium der Warnung, der Bedrohung oder der Ausgrenzung durch Herabsetzung sein und erweist sich dabei als viel effektvoller als das indirekte Reden über jemanden. Wegen dieser besonderen Funktion wird in diesem Artikel besonderes Augenmerk auf die Form der Anrede und ihr Auftreten in den verschiedenen Sprecherdimensionen gelegt.

In den klassischen und zeitgenössischen Werken der Koranwissenschaft ist die Thematik der Ansprache/Anrede (muḥātabāt, ḫitāb) ein wichtiges Thema. In dem klassischen Werk al-Itqān von as-Suyūṭī werden vierunddreißig Arten und Unterschiede der Anrede im Koran aufgezählt, an die sich die zeitgenössischen Werke weiterhin halten und an denen sie sich orientieren. Dabei werden diese Arten wiederum in drei Gruppen unterteilt: Anreden, die nur an den Propheten gerichtet sind, Anreden die nicht dem Propheten, sondern anderen Menschen gelten, und Anreden, die an alle möglichen Adressdaten (Propheten und weitere Menschen) gerichtet sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Differenzierung zwischen der „allgemeinen, universalen Anrede“ (ḫitāb al-ʿāmm) und der „speziellen Anrede“ (ḫitāb al-ḫāss).

Die  Anredeform  kāfirūn  bzw.  yā  yyuha  l-laḏīna  kafarū  („Ihr  Ungläubigen“) erwähnt  as-Suyūṭī  in  der  Kategorie  „ḫiṭāb  aḏ-ḏammi“  also  in  der  Kategorie „Anrede  des  Tadels,  der  abfälligen  Beurteilung“.

Er  spricht  davon,  dass diese Form, die direkt und speziell an die ungläubigen Adressaten gerichtet ist, nur an zwei Stellen im Koran vorkommt, nämlich in den Koranversen 66:7 und 109:1. Im Fall des Koranverses 66:7 werden die Ungläubigen erst im Jenseits als solche angesprochen also nach deren Schicksalsbesiegelung als Ungläubige. Wieso as- Suyūtī den Koranvers 109:1 als ein „ḫitāb aḏ-ḏammī“ auflistet, lässt sich nicht ersehen. Eine mögliche Erklärung wäre der – wohl auf das jenseitige Leben gerichtete – schicksalsbedingte Charakter dieser Verse. Wenn Gott den Propheten Muḥammad auffordert zu sagen: „Sag: Ihr Ungläubigen! Ich verehre [diene] nicht, was ihr verehrt und ihr verehrt nicht, was ich verehre. Und ich verehre nicht, was ihr (bisher immer) verehrt habt, und ihr verehrt nicht, was ich verehre. Ihr habt eure Religion, und ich die meine“, dann zeigt sich die ganze Wucht und Stoßkraft der Anrede „Ihr Ungläubigen“. Ohne den historischen Zusammenhang und einer universellen Lesung (ʿāmm), ließen sich diese Verse gerade mit ihrer Betonung der Differenz und Ungleichheit als ein universelles Plädoyer für Toleranz und die Koexistenz der Religionen verstehen. Aber mit der Einbeziehung des historischen Zusammenhangs, der gewichtigen Anrede und einer historisch-kontextuellen speziellen (ḫāss) Lesung dieser Verse, handelt es sich bei dem, was Gott über den Propheten den polytheistischen Mekkanern mitteilt, so ar-Rāzī und eventuell auch as-Suyūtī, um einen deutlichen Tadel (s. auch unten). Das einleitende „Ihr Ungläubigen“ bedeutet hier unmissverständlich: „Ihr habt den falschen Glauben“ und in diesem Licht ist der Rest des Satzes zu verstehen.

Die meisten Titulierungen mit der Bedeutung „Ungläubige“ treten in der Form „allaḏīna kafarū“ auf, in denen Gott die Gemeinten nicht direkt anredet, sondern als Adressaten der Offenbarung über deren Verkünder zwar bestimmt, sie aber, so as-Suyūṭī, nur in einer übersehenden/missachtenden Rhetorik erwähnt (jene, die Ungläubig sind), damit ihnen die Auszeichnung als Ansprechpartner nicht zuteilwird. Diese exkludierende Diktion der Nichtwürdigung als Ansprechpartner findet sich auch in den oben erwähnten zwei Koranversen. Denn im ersten Beispiel ist der Redner anonym, es ist nicht bekannt, wer die Ungläubigen im Jenseits als solche ansprechen wird, und im zweiten Beispiel fungiert wieder der Prophet als vermittelnder Sprecher.

Anhand der Methode der Berücksichtigung der Sprecherdimension lassen sich die zitierten Beispiele so interpretieren, dass es Gott als Sprecher und Ansprecher allein zukommt, den sündigen Zustand des Unglaubens und des Polytheismus angemessen zu bewerten und zu benennen. Gott allein entscheidet, wer als Ungläubiger zu gelten hat und ob und wie er anzusprechen ist. Denn nur Gott weiß, „wer von seinem Weg abirrt, und wer rechtgeleitet ist“ (16:125). „Angemessen“ bedeutet in diesem Zusammenhang, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, dass nämlich ein Nichtmuslim in einem pejorativen Sinn ein Ungläubiger ist, weshalb ihm Gott nicht den Status eines Kommunikationspartners zubilligt: Entweder lässt er ihn anonym ansprechen oder über den Propheten.

Eine Differenzierung bzw. kategoriale Unterscheidung der Anredeformen im Sinne der Sprecherdimensionen, wie sie in diesem Artikel thematisiert wird, findet sich bei as-Suyūtī nicht, wie auch nicht in den zeitgenössischen – zumindest von uns eingesehenen – Werken der Koranwissenschaften.

Die takfīr-Praxis aus historischer und sozialer Perspektive

In der Geschichte des Islam entstand in erster Linie aufgrund politischer Spaltungen schon in der Frühzeit die Neigung, Muslime, die eine andere Meinung – nicht nur zu theologischen Themen – besaßen, aus der Gemeinschaft auszuschließen. Die extremste Form dieser Exklusion war die Anklage/Verleumdung des Unglaubens, des takfīr. Die erste große Spaltung mit der Praxis der theologisch codierten Exklusion von Andersdenkenden innerhalb der jungen islamischen Gemeinde war die Beschuldigung des Unglaubens seitens der Ḫāriǧīten gegen den damaligen Kalifen ՙAlī und seinen politischen Kontrahenten Muʿāwiya. Das Kernproblem dieser Auseinandersetzung war nicht theologischer, sondern politischer Natur, es wurde religiös kodiert und mit einem propagandistisch wirksamen Slogan versehen.

Die Kodierung vollzog sich mit nichts Geringerem als mit Koranversen, die dem ḫāriǧītischen Slogan „lā ḥukma illā lillāh – nur Gott hat die Entscheidungsgewalt“ die Legitimation liefern sollten. Die Ḫāriǧīten warfen dem Kalifen ՙAlī und Muʿāwiya damit Unglauben vor, weil beide sich dem sogenannten Schiedsgericht von ՙAdrūh – also einem menschlichen Urteil – gebeugt hätten. Wie konnte sich der Kalif einem menschlichen Gericht beugen, wenn doch nur Gott urteilen darf (vgl. 40:12), so ihr fatales fundamentalistisches und herausforderndes Urteil gegen ʿAlī. Zu ihren Zwecken zogen die Ḫāriǧīten aus dem Koran den Vers 5:44 heran, in dem die beiden Aspekte „Urteil“ und „Unglaube“ vorkommen, und setzten damit eine verbreitete Form des takfīr in die Welt. So heißt es in diesem Vers nach Parets Übersetzung: „[…] Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat, sind die (wahren) Ungläubigen.“ Das politische Kalkül dieser religiösen Konnotierung des Streits war es, die eigene Glaubwürdigkeit zu bewahren und die eigenen Machtinteressen durchzusetzen, was zu folgenreichen und kontroversen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Islamischen Theologie führte.

Ein Muslim, der das Urteil eines Menschen dem Gottesurteil vorzog, konnte nach dieser spalterischen Logik nur ein großer Sünder, also für diese Gruppe ein Ungläubiger sein. Der vorgebliche Sünder gegen Gottes Autorität wurde somit als Ungläubiger stigmatisiert und nicht selten griffen einige Gruppen innerhalb der Ḫāriǧīten unter diesen Vorzeichen zur Gewalt. Selbst wenn diese politische Sekte sich nicht lange halten konnte und eine große Mehrheit der Gelehrten sich dieser instrumentalisierenden Form der takfīr-Praxis entgegenstellte, war das Unheil religiöser Diskriminierung und Spaltung in der Welt und griff um sich.

Die Gelehrten der theologischen Schulen wie zuerst die Murǧi՚a und die sich etwas später entwickelnden Ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa als auch die Šiʿa und die Muʿtazila argumentierten zwar gegen diese radikale Haltung der Ḫārigīten, doch sind die Auswirkungen dieser radikalen Praxis bis heute erkennbar, auch innerhalb der zuletzt genannten Schulen. So findet sich in der Muʿtazila die Auffassung, dass ein Muslim, der schwere Sünden begangen hat, zwar in der Gemeinde der Muslime weiterhin als solcher leben darf, doch in religiöser Hinsicht kein Gläubiger mehr ist, solange er sich nicht von der Sünde abwendet. Das konnte zum Beispiel bedeuten, dass der Gläubige, der schwer gesündigt hat und einen plötzlichen Tod erleidet und damit die Chance der Umkehr (tawba) verpasst hat, im Jenseits zu den Höllenbewohnern bzw. zu den Ungläubigen (kāfirūn) gezählt wird. Für den Gelehrten Ibn Qayyīm al-Ǧawziyya ähnelte folgerichtig in dieser Hinsicht die Theologie der Muʿtazila derjenigen der Ḫāriǧīten. Der Unterschied zwischen der ḫārigītischen und der muʿtazilītischen Definition bestand darin, dass die großen Sünder (fāsiq) nach der Muʿtazila im Diesseits nicht als Ungläubige (kāfīr) bezeichnet wurden.

Der takfīr, obwohl stark von allen verbreiteten sunnitischen Rechts- und Theologieschulen abgelehnt, konnte in der muslimischen Geschichte allerdings immer wieder seine Wirkung entfalten, wenn u. a. politische Interessen oder individuelle Rivalitäten im Hintergrund mitspielten. Die sunnitischen Gelehrten al- Ašʿarī und Baqillānī haben z. B. den muʿtazilītischen Gelehrten an-Nazzām des Unglaubens bezichtigt und darüber Abhandlungen geschrieben. Verschiedene Gruppierungen innerhalb der Sunniten bedienten sich ebenfalls von Zeit zu Zeit dieser Ausgrenzungspraxis, allen voran die Salafiyya. Ihre takfīr-Praxis richtete sich zumeist gegen die Anhänger des Sufismus. Umgekehrt hatte wiederum die Salafiyya mit solchen Anklagen seitens sunnitischer Theologen (mutakallimūn) und Sufis zu kämpfen. Bis heute hat sich insbesondere zwischen den Anhängern verschiedener sufistischer Orden (tarīqa) und den Salafisten/Wahhabīten nicht viel verändert, was die takfīr-Praxis betrifft, wenn auch die Salafisten hierbei – nicht nur den Sufis gegenüber – deutlicher hervorstechen.

Die Propheten und ihre Anreden an ihr Volk

Der Prophet Noah und sein Volk

Der erste Prophet, der den Auftrag von Gott bekam, dem Volk die Offenbarung zu verkünden, war dem Koran zufolge der Prophet Noah. An dieser Erzählung können wir die Anfänge einer kontinuierlichen Konfrontation zwischen den Propheten und ihren verschiedenen Kontrahenten ablesen. Aus dieser ersten Geschichte lässt sich zugleich der Prototyp des prophetischen Verhaltens gewinnen.

Noah, einer aus dem Volk (vgl. u. a. 7:63), sprach dieses stets mit „O mein Volk“ (yā qawmī) an (vgl. 7:59, 10:71, 11:28-9, 71:2 u. 5). Er verkündete ihnen den Ein- Gott-Glauben (tawhīd) und wollte von ihnen nichts Weltliches als Gegenleistung (vgl. u. a. 11:9). Er warnte sein Volk vor einer kommenden Strafe (vgl. 11:26) und

musste sich mehrmals gegen verschiedene Vorwürfe, wie des offenkundigen Irrtums (ḍalālin mubīn), der Verleumdung, Privilegien (yatafaḍḍala) in der Gesellschaft anzustreben, und der Verrücktheit (ǧinna, maǧnūn, vgl. 23:5, 54:9) wehren. Ihm würden sowieso nur die „Erniedrigten, die Niedrigsten der Gesellschaft“  (՚arḏalūn,  vgl.  26:111)  folgen.  Diese  Vorwürfe  kamen  von  den

Vornehmen (malā   der Gesellschaft. Noah warnte dagegen sein Volk weiterhin vor einem Unheil und wollte, dass es die Barmherzigkeit Gottes findet. Doch die Ablehnung der göttlichen Botschaft Noahs geschah nicht nur durch die Vornehmen, sondern auch durch das Volk. Nur wenige schlossen sich ihm an und konnten sich mit der Arche retten. Dennoch gibt es nicht ein Beispiel, in dem Noah sein Volk mit „Ihr Ungläubigen“ oder „Ihr Polytheisten“ anredet.

Wenn Noah mit seinem Volk oder mit den Vornehmen des Volkes sprach, so redete er deutlich, warnend und kritisierend („ihr seid Leute, die töricht/unwissend sind“, 11:29), aber auch nachsichtig gegenüber ihrem Spott (vgl. 11:38), asozialen Forderungen (die Verstoßung der Niedrigen, vgl. 11:29) und ihren Bezichtigungen der Lüge (kaḏḏabat, vgl. 26:105).

Gott hatte dagegen deutliche und determinierende Aussagen und Titulierungen für dieses Volk: Er bezeichnet die Angehörigen dieses Volkes als Blinde (qawman ՙamīn, vgl. 7:64), als Frevler/Unrechttuende (ẓalamū, qawmi ẓ-ẓālimīn, ẓālimūn, vgl. 11:37, 11:44, 23:27-8, 25:37, 29:14-5), als Törichte/Unwissende (ǧāhilīn, vgl. 11:46), als ein böses Volk (qawma sawin, vgl. 21:77), als ein sündhaftes/frevlerisches Volk (qawman fāsiqīn, vgl. 51:46, 57:26) und schließlich als Ungläubige ( llaḏīna kafarū, vgl. 23:24; 38:2, 66:10).

Während Noah sich seinem Volk gegenüber zwar kritisch und mahnend, aber vor allem nachsichtig verhielt, versah Gott dieses Volk wegen dessen Haltung zur Offenbarung, zu seinem Gesandten und wegen der erniedrigenden Haltung den Schwachen der Gesellschaft gegenüber mit deutlichen Charakterisierungen und Urteilen.

Doch gibt es in dieser Geschichte Ausnahmen, die, wie sich im Folgenden zeigen wird, eigentlich keine sind. An zwei Stellen in der Geschichte nennt Noah selbst sein Volk ungläubig. Die erste Nennung stammt aus dem kurzen Dialog zwischen ihm und seinem Sohn, der sich vor den Fluten in die Berge zu retten versucht. Hier sagt Noah: „Mein Sohn! Steige mit uns ein und bleibe nicht mit den Ungläubigen zurück!“ (vgl. 11:42). Die zweite Erwähnung findet sich in einem Dialog mit Gott; hier scheint Noah die Hoffnung gänzlich verloren zu haben und seinem Volk in der Zukunft noch Schlimmeres zuzutrauen, weshalb er schließlich den Wunsch äußert:

Mein Herr, lasse auf der Erde von den Ungläubigen keinen einzigen zurück, der darauf wandeln könnte! Wenn Du sie am Leben lassen solltest, würden sie Deine Diener irreleiten und nur schlimme, vermessene Ungläubige in die Welt setzen“ (vgl. 71:26-7).

Man kann nun bei den zwei Ausnahmen darüber spekulieren, weshalb Noah sein Volk als ungläubig bezeichnet, doch anhand des Verlaufs der Geschichte lässt sich Folgendes mit Bestimmtheit sagen: Erstens, nirgends spricht Noah im direkten Gespräch sein Volk und seine Kontrahenten als Ungläubige an bzw. urteilt entsprechend über sie. Zweitens, die beiden Erwähnungen fallen in die Zeit nach der göttlichen Urteilsverkündung und dem Auftrag, die Arche zu bauen. Also erst nachdem das Schicksal der Ungläubigen, den Tod als Ungläubige zu sterben, besiegelt war. Noah greift also Gottes Urteil auf, er maßt es sich nicht selbst an.

Der Prophet Hūd und sein Volk

Der Prophet Hūd ist der koranischen Chronologie zufolge der Nachfolger Noahs (vgl. 7:69). Auch Hūd redet sein Volk stets in derselben Form wie Noah an: „O mein Volk – yā qawmī (vgl. 7:65) und besitzt dieselbe Aufgabe der Offenbarungsverkündung (vgl. u. a. 7:69). Doch scheint Hūd kritischer zu sein und deutlichere Worte zu sprechen als sein Vorgänger. So kritisiert er sein Volk, dass es Lügen ersinne, sie Lügner seien (vgl. 11:50), sie nicht denken würden (vgl. 11:51) und es ein unwissendes Volk sei (vgl. 46:23). Die Sünde der Beigesellung erwähnt er ebenfalls unmissverständlich mit den folgenden Worten (11:54, vgl. auch 11:55):

Gott möge mein Zeuge sein. Auch ihr sollt bezeugen, dass ich keine Schuld an eurer Vielgötterei trage, wenn ihr Gott Gefährten beigesellt.“ Er ist auch deutlicher bzw. wird von Gott mit deutlicheren Worten zitiert, was die Hinwendung an das Weltliche und weitere Sünden, wie Hochmut, betrifft (26:128-131): „Errichtet ihr auf jeder Anhöhe ein hohes Monument und treibt damit ein törichtes Spiel? Und baut ihr euch gewaltige Anlagen und glaubt, ihr seid unsterblich? Wenn ihr jemanden bestraft, seid ihr schrecklich maßlos.“ Dagegen muss er sich von seinen Kontrahenten anhören, dass er „töricht und ein Lügner“ sei (vgl. 7:66) und sogar im Namen Gottes Lügen ersinne (vgl. 23:38).

Im Gegensatz zu Noah erwähnt Hūd an keiner Stelle sein Volk oder die Vornehmen (malā՚) als Ungläubige (kāfir) oder als Polytheisten (mušrik), also auch nicht in einem Dialog mit Gott oder in einem Privatgespräch, wenn auch die Kritik des Polytheismus deutlich ist. Dabei bezeichnet er sie als jene, die Lügen ersinnen (muftarūn, vgl. 11:50). Die Erwähnung „Sünder“ oder „Übeltäter“ (muǧrimīn) in der Sure 11:52 geschieht wiederum in Form eines Wunsches oder einer Warnung, dass sie nicht als solche sich von der Offenbarung Gottes oder von Gott abwenden mögen.

Dagegen ist es wieder Gott, der dieses Volk mit drastischen Charakterisierungen versieht: als Ungläubige, genauer: „die Vornehmen, die ungläubig sind“ (al-malāՙu l-laḏīna kafarū, vgl. 7:66, 23:33), als „nicht Glaubende (mā kānū mu՚minīn), als

„die Zeichen Gottes für Lüge Erklärende“ (kaḏḏabū bi-՚āyātinā, vgl. u. a. 7:72), als die Zeichen Gottes Ablehnende (ǧaḥadū, yaǧḥadūn, 11:59), als Frevler/Unrechttuer (ẓālimīn, vgl. 23:41), als Sünder (muǧrimīn, vgl. 25:22) oder als „sich hochmütig Verhaltende“ (fastakbarū, vgl. 41:15).

Wir sehen auch im Falle des Propheten Hūd, dass das Recht, über einen Menschen das sozial stigmatisierende und für die Heilsbestimmung fatale Urteil „Ungläubiger“ zu verhängen, allein Gott zusteht.

Der Prophet Ṣāliḥ und sein Volk

In der koranischen Erzählung über den Propheten Ṣāliḥ und sein Volk Ṯamūd findet sich die Anrede „O mein Volk!“, aber keine an das eigene Volk gerichtete Bezeichnung, die den Unglauben betrifft. Es finden sich – mit einer Ausnahme – auch keine anderen negativ konnotierten Anreden, selbst nicht in dem Fall, in dem die Menschen die „Kamelstute“ als Zeichen Gottes töten (vgl. u. a. 7:77). Stattdessen spricht Ṣāliḥ in mahnender und Rat gebender Art und Weise. Die einzige Ausnahme sind die deutlichen Worte über die herrschende Klasse: „Und gehorcht nicht dem Befehl derer, die nicht maßhalten und die Unheil auf Erden anrichten und nicht für Frieden und Ordnung sorgen“ (vgl. 26:151-152).

Als Ungläubige (kāfirūn) bezeichnet Gott wiederum in dem Koranvers 22:44 das Volk Ṯamūd zusammen mit den Völkern der Propheten Noah, Hūd, Abraham, Lot, Šuʿayb und Moses (es sind wohl die Ägypter gemeint). Des Weiteren werden das Volk Ṯamūd und seine Vornehmen (malā՚) u. a. undankbar/ungläubig (kafarū, vgl. 11:68), hochmütig (՚istakbarū, vgl. 7:75-6) oder Frevler (ẓalamū, vgl. 11:67) genannt. Das Volk Ṯamūd zog die Blindheit der Rechtleitung vor, weshalb es dem Vers 41:27 zufolge die Strafe verdient hat.

Abraham und sein Volk

In mehreren Suren wird der Dialog zwischen Abraham und seinem Vater wiedergegeben. Der Vater, ein Polytheist (mušrik) und Hersteller von Götzenfiguren, wird in der Sure 6:74 mit den folgenden Worten von Gott zitiert:

Gewiß, ich sehe dich und dein Volk in deutlichem Irrtum(ḍalālin mubīn). Mit dem Ausdruck ḍalāl und seinen Ableitungen für Irrtum wird Abraham des Weiteren in den Versen 6:77, 14:36, 21:54 und 26:86 zitiert. Kritik äußert Abraham deutlich, so bezeichnet er u. a. die Anbetung der Götzen als Anbetung des Teufels (19:44-45).

Auch Abraham verwendet nicht das Nomen kāfir (Ungläubiger). Die Anrede mušrik (Polytheist), die sich auf die in dieser Geschichte besonders hervorgehobene Sünde der Beigesellung (širk) bezieht, kommt als Anrede mit einer Ausnahme ansonsten nicht vor. Doch die Sünde der Beigesellung, die Unglaube ist bzw. eine Kategorie des Unglaubens darstellt, selbst wird öfter zitiert, und zwar indem Abraham sie für sich selbst zurückweist. So zitiert Gott Abraham mit den Worten (Sure 6:78): „O mein Volk, ich sage mich ja von dem los, was ihr (Ihm) beigesellt.“ Ähnliche Formulierungen und Ablehnungen dieser Sünde finden sich in den darauffolgenden Koranversen 6:79-81 (vgl. auch 14:35). Und in dem Vers 6:79 befindet sich die erwähnte Ausnahme. Hier wird zwar die Bezeichnung mušrikūn von Abraham gebraucht, doch wiederum nicht in Form einer Anrede, sondern als Unterscheidungsmerkmal zwischen ihm und den Polytheisten, von denen er sich abgrenzt.

Wie schon zuvor sind deutliche Urteile und Titulierungen unmittelbar in der Rede Gottes enthalten. Das Wort kufr kommt in der Sure 2:258 vor, in der Gott über den Herrscher, der sich mit Abraham stritt, sagt: „Da war derjenige, der ungläubig (allaḏī kafara) war, verblüfft.“ Eine weitere Verwendung findet sich in der Sure 29:23 in der ähnlichen Form „wallaḏīna kafarū“:

Lot und sein Volk

Im Koran werden deutliche Kritiken Lots zitiert, die sich insbesondere gegen die Sünde der Homosexualität richten. So wird Lot von Gott mit folgenden Beschreibungen seines Volkes zitiert: maßlos (musrifūn, vgl. 7:81), unbesonnen ( laysa  minkum raǧulun  rašīd,  vgl. 11:78),  ein  Volk,  das  Übertretungen begeht (qawmun ʿādūn, vgl. 26:166), das etwas Verabscheuungswürdiges macht (innī liʿamalikum mina l-qālīn, vgl. 26:168), etwas Abscheuliches begeht (՚atat՚ ūna fāḥiša, vgl. 27:54, 29:28), das töricht/unwissend ist (qawmun taǧhalūn, vgl. 27:55), das etwas Verwerfliches tut (munkar, vgl. 29:29) und Unheil stiftet (mufsidīn, vgl. 29:30).

Von Gott unmittelbar geäußerte Kritikpunkte sind: Sünder/Übeltäter (muǧrimīn, vgl.    7:84),   böse    Taten   Begehende    (yaʿmalūna   sayyi tin,    vgl.    11:78),

Frevler/Unrechttuer (ẓālimīn, vgl. 11:83), die Abscheuliches tun (taʿmalu l-ḫabāi՚ ṯa, vgl. 21:74), ein böses/sündhaftes Volk (qawma sawi՚ n fāsiqīn, vgl. 21:74), ein abgeirrtes Volk (qawmun yaʿdilūn, vgl. 27:60).

Aus der Geschichte mit den Gesandten bzw. Engeln und dem Propheten Abraham, die zur Bestrafung des Volks Lots entsandt wurden, finden sich aus dem Munde der Engel folgende Äußerungen: ein Volk von Frevlern/Unrechttuern (ahlahā kānū ẓālimīn, vgl. 29:31), ein Volk von Sündern/Übeltätern (qawmun muǧrimīn, vgl. 51:32) und Maßlosen (musrifīn, vgl. 51:34).

Obwohl so deutliche Worte und Kritik vorgebracht werden, findet sich interessanterweise in den Erzählpassagen weder die Kritik des Unglaubens noch der Beigesellung. Dass dieses Volk aber doch ein ungläubiges Volk war, lässt sich zum einen anhand der unmittelbaren Aussagen Gottes im Vers 66:10 entnehmen, in dem die Frau Lots (zusammen mit der Frau Noahs) als Beispiel des Unglaubens (allaḏina kafarū) genannt wird, und zum anderen in dem Vers 22:44, wo einige Völker als Ungläubige (kāfirīn) beschrieben werden, was auch der Grund für die Strafe Gottes genannt wird.

In der weiteren chronologischen Reihenfolge kommen die Propheten ՚Ismāʿīl, ՚Isḥāq, Yaʿqūb und Yūsuf vor, die entweder nur namentlich genannt werden oder keine Propheten waren, die einen ähnlichen Verkündungsauftrag besaßen wie die Propheten zuvor. In dem Koranvers 12:87 verwendet Yaʿqūb das Wort qawmu l- kāfirūn, als er seinen Söhnen sagt: „Nur das Volk der Ungläubigen macht sich keine Hoffnung darauf.“ Diese Verwendung ist keine Anrede und somit ist auch kein bestimmtes ungläubiges Volk gemeint. Das zeigt wiederum, dass die allgemeine Verwendung des Begriffs – ohne ein bestimmtes Volk ins Visier zu nehmen – als Warnung und Gleichnis fungieren kann.

Šuʿayb und sein Volk

Die Abfolge dieser Geschichte ist der in den Geschichten der vorherigen Propheten ähnlich. Šuʿayb verkündet den Eingottglauben und kritisiert sein Volk, während nur Gott das Volk als Ungläubige bezeichnet (vgl. 7:90, 22:44).

Eine Ausnahme findet sich in dieser Geschichte im Koranvers 7:93, in dem Šuʿayb sagt: „Wie sollte ich betrübt sein über ungläubige Leute?“ Dies sagt er, nachdem er sich von seinem Volk abgekehrt hat. Wann genau diese Abkehr stattfand, also vor oder nach der Strafe, ist ein Diskussionsthema in der Koranexegese. Für ar-Rāzī, der hier Kalbī zitiert, und für die meisten Gelehrten kamen die Abkehr und diese Frage nach der Strafe. Die Frage ist, nach ar-Rāzī, als eine Art der Selbsttröstung zu verstehen und dies wird mit Begriff in dem besagten Vers erklärt, der  nicht einfach „Trauer“ bedeutet, sondern „šiddat al-ḥuzn („intensive Trauer“) ausdrückt. Šuʿayb war sehr traurig darüber, dass sein Volk trotz langjähriger Versuche nicht die Rechtleitung annahm, und suchte nach einem Weg der Tröstung. Diese Frage und die Verwendung „qawmin kāfirīn“ Šuʿaybs war somit nicht, wie man annehmen könnte, direkt an das eigene Volk gerichtet. Die Frage war nach der Schicksalsbesiegelung als Ungläubige an sich selbst gerichtet.

Darüber hinaus war seine Anrede an sein Volk, wie auch die der vorherigen Propheten, stets „O mein Volk! – yā qawmī“.

Moses, der Pharao und die Israeliten

Die Geschichte von Moses ist die längste und die am meisten erzählte Geschichte im Koran und zugleich mit vielen interessanten Fakten und Aspekten auch zu unserem Thema versehen. Die Prophetengeschichte von Moses lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen: Die Prophetie in Ägypten, also vor dem Exodus, in der der Unglaube am Beispiel des Pharaos deutlich zum Vorschein kommt, und die Geschichte nach dem Exodus mit besonderem Augenmerk auf die Erzählung mit dem Kalb.

Interessanterweise kommen das Wort kufr und seine Derivate nicht so oft vor, wie man intuitiv erwarten würde, und direkte Verwendungen dieses Wortes durch Gott sind nicht allein an den Pharao und sein Volk gerichtet. Während der Pharao und sein Volk in den Koranversen 8:52, 22:44, 27:14, 40:25 als Ungläubige charakterisiert werden, findet sich in 2:93 eine von Gott vorgenommene unmittelbare Kennzeichnung einiger Israeliten als Ungläubige, deren Unglaube im Herzen wie folgt erwähnt wird: „Und es geschah ihnen durch ihren Unglauben (kufrihim), daß (die Liebe für) das Kalb in ihre Herzen eindrang.“ Eine weitere Anklage des Unglaubens findet sich in 2:61, wo die Verleugnung der Zeichen Gottes und die Tötung einiger Propheten seitens der Israeliten genannt werden. Zu beachten ist, dass diese Verse explizit im Zusammenhang mit der Geschichte von Moses stehen; dagegen gibt es weitere Koranverse, in denen Gott einige Israeliten aufgrund ihrer Ablehnung der Offenbarungen an Jesus und Muḥammad Ungläubige nennt.

Verwendungen des Wortes kufr in einer Aussage durch Moses, die Gott zitiert, sind ebenfalls vorhanden. Doch ebenso interessant ist, dass diese Verwendungen nicht an den Pharao gerichtet sind, sondern an sein Volk, die Israeliten. Doch hierbei handelt es sich um Mahnungen, nicht in Unglauben zu verfallen (vgl. 14:7) und um eine ablehnende Haltung von Moses gegenüber dem, wozu sein Volk ihn, nämlich Unglaube und Vielgötterei ruft (vgl. 40:42). Eine Etikettierung als Ungläubige aufgrund dieser für den Gläubigen ungeheuerlichen Einladung erfolgt dennoch nicht. Moses beschuldigt sein Volk bzw. Teile seines Volkes nicht, Ungläubige oder Polytheisten zu sein, obwohl ihr Unglaube und die Sünde der Beigesellung durch die Errichtung des Kalbs offensichtlich war. Er kritisiert sie stattdessen mit Begriffen wie ẓulm und gibt ihnen zu bedenken, dass sie sich selbst Unrecht getan haben (vgl. 2:54). An einer weiteren Stelle bezeichnet er sein Volk als fāṣiqīn (Sünder/Frevler, vgl. 5:25), weil sie der Aufforderung  Gottes nicht nachkommen, in die Stadt einzudringen. Selbst bei dem Wunsch der Israeliten an Moses, ihnen einen Gott zu machen (iǧʿal, vgl. 7:138), ist Moses nicht daran interessiert, diesen mit Unglauben in Verbindung zu bringen, wie manche radikalen Kreise es wohl heute affirmativ praktizieren würden, und sagt stattdessen zu ihnen, dass sie ein törichtes/unwissendes Volk seien (i՚ nnakum qawmun taǧhalūn, vgl. 7:138). Weder das ungläubige ägyptische Volk noch den Pharao etikettiert Moses als ungläubig, stattdessen tadelt interessanterweise der Pharao den Propheten Moses mit der Anrede kāfir, wenn auch in der Bedeutung „undankbar“ (vgl. 26:19).

Es gibt viele weitere Formen, in denen Gott die Verfehlungen der Israeliten und der Ägypter tadelt. Darauf kann nicht näher eingegangen werden, daher seien exemplarisch folgende Erwähnungen genannt: Frevler (ẓālimīn, vgl. 2:51, 2:92, 2:246, 8:54 et passim), Frevler/Sünder (fāsiq, vgl. 5:26, 27:12), hochmütig und überheblich (fastakbarū, qawman ʿālīn, vgl. 23:46).

Salomon und die Königin von Saba

Der nächste für unsere Thematik relevante Prophet ist Salomon. Obwohl das Volk Saba samt seinen Vornehmen und der Königin die Sonne anbeten und diese Beigesellung in dem Bericht von dem Vogel Hudhud ihre Erwähnung findet, gibt es keinerlei determinierende Anreden oder Etikettierungen als Ungläubige.

Dagegen wird das Volk Saba von Gott als ein ungläubiges Volk (qawmin kāfirīn) bezeichnet.

In den kurzen Geschichten der Propheten Yūnus und ՚Ilyās wird auf die Verkündungsaufgabe der Propheten kurz eingegangen, doch findet sich die Benutzung der Worte kufr und širk auch hier nicht.

Jesus, die Israeliten und die Christen

In den vielen Koranversen, die Jesus erwähnen, kommen in dessen Reden und Aussagen nicht ein einziges Mal die Wörter kufr und širk und deren Wortbildungen vor. Dagegen finden sich deutliche Titulierungen Gottes den Israeliten und den Christen gegenüber als Ungläubige und werden in weiteren Versen mit dem Begriff kufr in Beziehung gesetzt, wenn auch in diesen Versen nicht alle Christen und Israeliten gemeint sind (vgl. 3:55, 4:156-159, 61:14). Teile der Israeliten werden von Gott als Ungläubige bezeichnet, weil sie die Botschaft Jesu nicht akzeptierten und versuchten Jesus zu töten (vgl. 2:87, 3:55, 9:30-31). Und über Teile der Christen ergeht dieses Urteil aufgrund der Sohn-Gottes-Lehre und der Trinitätslehre (vgl. 5:17, 5:72-75; 5:116-118, 9:30-31).

Muḥammad und die Mekkaner

Was Muḥammad, den letzten Propheten des Islam, betrifft, so finden sich für den vorliegenden Zusammenhang keine relevanten Verse im Koran, in denen Gott seinen Propheten Muḥammad mit der Verwendung des Wortes kufr und seiner Derivate zitiert. In den Überlieferungen des Propheten Muḥammad findet sich – wie bei den Propheten vor ihm – eine Anredepraxis dergleichen ebenfalls nicht. In meiner Dissertation habe ich die Sündenbegriffe – zu denen kufr zählt – im Koran untersucht und ihren Gebrauch mit dem in den Überlieferungen verglichen. Hierzu wurde das Werk „Concordance et Indices de la Tradition Musulmane“ (1936) von Wensinck herangezogen und die einzelnen Überlieferungen, in denen der Begriff kufr und seine Derivate verzeichnet werden, untersucht. Die Form kāfirūn, also Ungläubige, fand sich nur in einer Überlieferung (mit verschiedenen Überlieferungsketten, aber inhaltlich gleicher Version), in der Muḥammad die Muslime – welch eine Ironie – davor warnt, einen Gläubigen als kāfīr zu bezeichnen, da man sonst, sollte die Anklage nicht stimmen, selbst ein Ungläubiger werden könne. Das bedeutet, dass Muḥammad nie aus eigenem Gutdünken Muslime oder Nichtmuslime als Ungläubige bezeichnet hat. Seine Warnung zeigt, dass er sich der Brisanz und Fatalität der Charakterisierung „Ungläubiger“ bewusst war.

Wenn er in der Sūre al-Kāfirūn diesen schwerwiegenden und heilsrelevanten Begriff dennoch in direkter Anrede vorbringt, so geschieht dies mit direkter Autorisierung durch Gott in der Aufforderung „qul – sag/sprich!“. Der Offenbarungshintergrund (՚asbāb an-nuzūl) der kurzen Sure al-Kāfirūn ist folgender: Die polytheistischen Mekkaner unterbreiteten Muḥammad das aus islamischer Sicht ungeheuerliche Angebot, dass sie ein Jahr seinen Gott anbeten und er ein Jahr lang ihre Götter anbetet. Der Prophet schwieg und daraufhin wurden diese Verse als eine Ablehnung des Angebots offenbart. In dem Tafsīr- Werk von ar-Rāzī finden sich dreiundvierzig mögliche Erklärungen dieser Anrede. Eine für das Thema der Unterscheidung der Sprecherdimension interessante Auslegung ist folgende: Da der Prophet selbst zu Nachsicht und Milde verpflichtet ist  und  die  Anrede  „kāfirūn“  –  so  ar-Rāzī  –  hässlich  (  šnaʿ)  und abscheulich (  bšaʿ) ist, hat Gott an den Anfang dieser Verse den Imperativ „qul“ gesetzt, damit unterschieden und verdeutlicht wird, dass nicht Muḥammad die Mekkaner als Ungläubige bezeichnet hat, sondern Gott ihn zu dieser Anrede aufforderte. Gäbe es diesen Anfangsteil nicht, könnten – so ar-Rāzī weiter – die Mekkaner beleidigt sein, zumal sie aus dem Munde Muḥammads eine solche Reaktion nicht erwartet hätten. Darüber hinaus beziehe sich die Anrede „kāfirūn“ nur auf die besagten Mekkaner, die dem Propheten das Angebot machten.

An diesen in der Sprecherdimension Gottes gründenden Kodex hielt sich der Prophet auch dann, wenn das Verhalten einzelner Gläubiger in der Gemeinde Anlass zu schwerem Tadel gab. Nicht einmal bei bedeutenden Normverstößen hat er über die Betreffenden (u. a. dem Propheten bekannte Heuchler) den Bann der Ungläubigkeit verhängt, stattdessen hat er sie als einen Teil der muslimischen Gemeinde betrachtet.

Fazit

Wer darf wen mit welcher Legitimation einen Ungläubigen nennen? Ausgehend von dieser Leitfrage zeigten die vorangegangenen Darlegungen, dass die Bezeichnung „Ungläubiger“ keineswegs eine Tatsachenfeststellung ist, sondern ein Werturteil der schwerwiegenden Art. Der Begriff kāfir mit seinen Ableitungen führt in der islamischen Tradition und im Koran Konnotationen mit sich, die das diesseitige und jenseitige Schicksal des so Bezeichneten berühren. Es lag nicht nur am Respekt vor der transzendenten Dimension dieser Problematik, sondern auch an dem klaren, von Demut und Ehrfurcht getragenen Bewusstsein, dass über die Geschöpfe Gottes nur der Schöpfer selbst verfügen darf, warum sich sämtliche Propheten Zurückhaltung in dieser Frage auferlegten. Wir können diese Einstellung auch als Ehrfurcht vor der Sprecherdimension Gottes verstehen. Die Haltung und Praxis des Propheten Muḥammad spiegelt sich in den Geschichten der anderen Propheten im Koran wider und bildet eine kohärente und durchgängige Verhaltensweise (sunna) der Gesandten Gottes. Diese kamen dem Urteil Gottes nicht zuvor, sondern hielten sich an die zur Realisierung der Vorbildhaftigkeit gebotenen Anweisungen Gottes, Nachsicht zu üben und das Gute zu gebieten (vgl. 7:157, 199).

In diesem Zusammenhang spielt die Sprecherdimension eine tragende Rolle für die Normativität der takfīr-Problematik. Denn für die Muslime ist es Gott, der im Koran spricht, und Gott als Allmächtiger und Allwissender besitzt in Fragen des Glaubens und des Jenseitsglücks eine unmissverständliche und normsetzende Funktion. So hat er auch das Recht und die Definitionsgewalt, alles beim gebührenden Namen zu nennen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Ungläubigen im Koran deutlich und unverblümt als solche benannt und angesprochen werden und dass im Vergleich dazu die Propheten, die sich in einer anderen Sprecherdimension befinden, sich dieses Privileg nicht zu eigen machen. Denn sie sind zur Milde und Feinfühligkeit verpflichtet (vgl. unter anderem Sure 21:107; 3:159; 9:128). Der sündhafte Zustand des Unglaubens bzw. seine Handlungen wurden dagegen von den Propheten immer wieder deutlich erwähnt, kritisiert und verurteilt. Sündhafte Handlungen wurden mit Worten versehen, die verglichen mit „kāfirūn“ kein heilsrelevantes Gewicht besaßen und kein Jenseitsurteil über einen Menschen sprachen, das allein Gott zusteht. In diesem Rahmen halten sich die prophetischen Anreden „Frevler/Unrechttuer“ (ẓālimīn) oder „Maßlose“ (musrifīn) und ähnliche.

Wir haben anhand der Geschichten über die Propheten im Koran und ihrer von Gott zitierten Äußerungen gesehen, dass die unterschiedlichen Sprecherdimensionen Gottes und seiner Botschafter ihnen unterschiedliche Kommunikationsformen und – legitimationen zuweisen. Das konnte besonders an den Reaktionen und Handlungsbeispielen von Moses und Muḥammad verdeutlicht werden. Muḥammad hat die ihm bekannten Heuchler nicht geschmäht oder sie vernichtend klassifiziert und Moses hat Teile seines Volkes, das ein Kalb anbetete, selbst bei diesem offenkundigen Unglauben nicht als Ungläubige verurteilt. An dieses Vorbild haben sich viele takfīr-praktizierende Muslime und Gelehrte in der islamischen Theologiegeschichte nicht gehalten. Sie haben sich in die Sprecherdimension Gottes verirrt und sich seiner Artikulation bedient, anstatt der zurückhaltenden Sunna der Propheten zu folgen. Die Assimilierung der Artikulationsform Gottes kommt, wenn man es genau betrachtet, einer Anmaßung gleich, einer Anmaßung der Autorität Gottes und seiner Verfügungsmacht über die Menschen. Eine solche Selbstüberhebung kann natürlich kein Muslim wollen und bewusst versuchen. Die kategoriale Unterscheidung der Sprecherdimensionen hat uns dabei geholfen zu erkennen, dass die takfīr-Praxis nicht nur den Muslimen, sondern auch den Andersgläubigen gegenüber falsch ist und keine Legitimationsbasis hat.

Sich nicht zum Richter über das jenseitige Heil anderer Menschen aufzuwerfen, sondern diese Aufgabe allein Gott zu überlassen dürfte die Aufgabe eines jeden Muslims sein. Dabei kann er sich dem Vorbild der Propheten anvertrauen, die in ihrem Urteil über abweichende Meinungen menschliches Maß bewahrten.

Link zum Artikel: relkultur244

Schreibe einen Kommentar